Vielfalt als Programm

Die Weltmusikmesse "Babel Med Music" ist Symbol für den Wandel Marseilles. Die Stadt galt lange als Schmuddelkind und soll nun zu einer kulturellen Metropole des Mittelmeerraumes aufgewertet werden.

Von David Siebert

​​Wer durch die Straßen von Marseille geht, hört Sprachen und Musiken aus aller Herren Länder. Nur wenige Schritte von dem neu renovierten Prachtboulevard Canebière entfernt, wähnt man sich in Nordafrika. In dunklen, engen Seitenstraßen reihen sich arabische Geschäfte aneinander, Musik schallt aus den Lautsprechern.

Für Sami Sadak, türkischer Ethnomusikologe und künstlerischer Leiter von "Babel Med Music", ist Marseille der ideale Ausrichtungsort für ein Weltmusikfestival:

"Marseille ist seit Jahrhunderten das Ziel von Einwanderern aus dem gesamten Mittelmeerraum. Hier lebt niemand isoliert: Die Leute fühlen sich nicht als Franzosen, Algerier oder Marokkaner, sondern vorrangig als Marseiller."

Konzertmarathon mit Bands im globalen Maßstab

In den vier Jahren seines Bestehens, hat sich "Babel Med Music" zur wichtigsten europäischen Fachmesse für Weltmusik neben der WOMEX im spanischen Sevilla entwickelt.

Drei Tage lang präsentierten sich Ende März mehr als 100 Produzenten, Labels, Konzert- und Tourneeveranstalter aus der ganzen Welt dem internationalen Fachpublikum. Abends öffneten die Pforten auch für die Öffentlichkeit: Ein Konzertmarathon mit 30 in Europa bisher kaum bekannten Bands stand auf dem Programm.

Die Palette der vertretenen Musikkulturen war vielfältig: Sie reichte von traditionellen Ensembles aus Ägypten oder Griechenland bis hin zu DJs. Der Malier Mo DJ etwa mischt traditionelle arabische und afrikanische Weltmusik elektronisch neu ab und schafft damit einen intelligenten, afrikanischen Kontrapunkt zu MTV.

Der Schwerpunkt des Festivals liegt jedoch auf dem Mittelmeerraum: "Länder wie die Türkei, mit ihrer unglaublich vielfältigen Musikszene, werden in der Zukunft gewaltig an Bedeutung gewinnen", meint Helmut Bürgel, Leiter des Stimmenfestivals im südbadischen Lörrach und Mitglied der Auswahljury bei "Babel Med Music".

"Wir würden uns als Europäer selber bestrafen, wenn wir die künstliche Trennung von der arabischen Kultur nicht überwinden würden", so Bürgel. "In ein paar Jahren wird die Begegnung mit der türkischen und arabischen Kultur für uns selbstverständlich sein."

Wie diese Begegnung funktionieren kann, zeigt der aus dem Libanon stammende Trompeter Ibrahim Maalouf. Der klassisch ausgebildete Musiker fällt durch seine ungewohnte arabischen Phrasierungen auf, die zusammen mit den Fusion-Jazz-Sounds seiner Band das Publikum begeistern.

Marseille als Dauerbaustelle

Ort des dreitägigen Musikspektakels ist das ehemalige Hafengelände der "Docks de Sud". Ringsherum entstehen Neubauten und riesige Bürotürme. Marseille befindet sich im Mittelpunkt des Euromed-Prozesses, ein Programm mit dem die Europäische Union die Zusammenarbeit mit den Mittelmeer-Anrainerstaaten intensivieren will.

Zurzeit gleicht die Stadt einer riesigen Dauerbaustelle: Drei Milliarden Euro haben Frankreich, die EU und private Investoren für neue Großprojekte zur Verfügung gestellt. Im Rahmen von "Euromed" soll Marseille zum "Tor zum Süden", zum ökonomischen Drehkreuz werden. Für Marseille eine große Chance: Für 2013 bewirbt man sich um den Titel als "Europäischen Kulturhauptstadt".

Katalysator für die Kulturmetropole Marseille

In "Babel Med" sieht Sami Sadak, "einen wichtiger Katalysator für die Wiederbelebung der Stadt. Die zahlreichen Besucher stärken die Wirtschaft. Und die Bewohner können neue, bisher unbekannte Musikgruppen entdecken, die oft das erste Mal überhaupt in Frankreich auftreten!“

Ein Highlight des Festivals ist der Auftritt des Flötisten Mamar Kassey. In einer Diskussionsrunde über die Produktions- und Arbeitsbedingungen für Musiker, berichtet er über seine Erfahrungen in seiner Heimat Niger: Jahrelang verdiente er dort in einem Tanzensemble nur 2,50 Euro im Monat.

Doch auch im Weltmusik-Zirkus erlebte Mamar Kassey später böse Überraschungen: Auf seiner ersten USA-Tour verschwand der Konzertmanager mit der gesamten Kasse. Ebenso wurde über neue alternative Vertriebswege für die Weltmusik debattiert oder die rigide Visapolitik Frankreichs gegenüber ausländischen Künstlern kritisiert.

Ob beim jungen Hiphop-Festival aus Dakar, dem Weltmusik-Label das mit Tuareg-Kitsch lockt oder dem selbstverwalteten italienischen Graswurzel-Musikclub-Netzwerk ARCI – die Stimmung der Messeteilnehmer ist optimistisch.

Wie die "Le Monde" kürzlich berichtete, kann sich die Weltmusikszene im Gegensatz zum Rest der Musikindustrie über volle Konzertsäle freuen. Die Auflagen von Weltmusik-CDs erreichen zwar selten mehr als 20.000 Exemplare, bleiben dafür aber stabil.

Das liegt auch daran, dass andere Vertriebswege genutzt werden: Spezialgeschäfte, unabhängige Initiativen und ethnische Communities spielen bei der Verbreitung eine wichtige Rolle.

Drohender Identitätsverlust

Bei "Babel Med Music" ist auch die lokale Musikszene eingebunden, wie etwa der auf "okzitanisch" singende Frauenchor.

"Es ist wichtig, dass eine internationale Fachmesse die Wurzeln in der Region pflegt", so Helmut Bürgel. "Bei den Konzerten sind mindestens genauso viele Leute aus Marseille wie professionelle Messebesucher."

Ob Marseille auch künftig der ideale Standort für "Babel Med Music" bleibt, ist offen. Die Innenstadtsanierung verändert rasant das Gesicht der Stadt. Viele der armen, aus Nordafrika stammenden Bewohner wurden vertrieben. Es entstehen Büros und Luxusappartements. So läuft Marseille Gefahr, seinen vielbeschworenen "Standortfaktor multikulturelle Identität" zu verlieren.

© Qantara.de 2008

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