Forschungsmöglichkeiten für Fellows auch aus islamischen Gesellschaften

Im Wissenschaftskolleg zu Berlin können sich Wissenschaftler verschiedener Fachbereiche und Nationalitäten ihren Forschungen widmen. Dazu Georges Khalil, Leiter des Arbeitskreises "Moderne und Islam".

Interview von Youssef Hijazi

​​Herr Khalil, wie werden die Themen und Fellows am Wissenschaftskolleg ausgewählt?

George Khalil: Die Forschungsvorhaben werden von den Wissenschaftlern selbst bestimmt. In der Regel überwiegen Themen aus den Sozial- und Geisteswissenschaften. Wir haben aber auch Schwerpunkte im Bereich der theoretischen Naturwissenschaften, laden auch Musiker oder Schriftsteller ein. Die Auswahl der Fellows erfolgt durch unseren wissenschaftlichen Beirat.

Was ist das Besondere an einem Aufenthalt im Wissenschaftskolleg?

Khalil: Normalerweise arbeiten Wissenschaftler in Kontexten, die stark national und disziplinär geprägt sind. Sie sind an den Universitäten im Lehrbetrieb eingebunden und durch administrative Pflichten in ihren Instituten ausgelastet. Wir bieten herausragenden Forschern die Möglichkeit, sich ganz auf ihr Forschungsprojekt zu konzentrieren, in einer akademischen Gemeinschaft auf Zeit, in einem anregenden Klima, das von Multinationalität und Interdisziplinarität geprägt ist. Dies, verbunden mit exzellenten wissenschaftlichen Dienstleistungen, ist das Besondere am Wissenschaftskolleg.

Sie sind Leiter des Arbeitskreises "Moderne und Islam". Welche Idee steht dahinter?

Khalil: Dieser Bereich wurde in den 1990er Jahren am Wissenschaftskolleg durch seinen ehemaligen Rektor Wolf Lepenies in Diskussion mit Berliner Wissenschaftlern und Fellows aus dem Nahen Osten – wie Abdallah Hammoudi, Sadek Al-Azem, Aziz Al-Azmeh oder Fatima Mernissi - konzipiert und wird unterstützt mit Mitteln des Landes Berlin, des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, der Körber-Stiftung, der Fritz-Thyssen-Stiftung, der Volkswagen-Stiftung oder auch des schwedischen Riksbankens Jubileumsfonds.

Die grundlegende Idee des Projektes war es, zu versuchen Fragestellungen der Moderne mit einem erweiterten Referenzrahmen und mit Wissenschaftlern aus muslimisch geprägten Gesellschaften zu erforschen - daher "Moderne und Islam". Es ging nicht um die Modernisierung des Islam, sondern umgekehrt, um eine Erweiterung binnenzentrierter Horizonte der Forschung.

In Deutschland wie in anderen Ländern haben alle disziplinär organisierten Fachbereiche im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaft, also etwa Geschichte, Philosophie, Theologie und Literaturwissenschaften, einen stark auf das eigene Land oder die eigene Region fokussierten empirischen Rahmen.

Wie wird die Idee umgesetzt?

Khalil: Das Wissenschaftskolleg selbst hat in den vergangenen Jahren wie auch in diesem Jahr mehrere Fellows, Wissenschaftler und auch Schriftsteller aus der Region des Nahen Ostens und der islamischen Welt eingeladen, um ein Jahr lang in Berlin zu arbeiten und sich an dem Vorhaben "Moderne und Islam" zu beteiligen. Der Arbeitskreis "Moderne und Islam" verfügt über ein eigenes Fellowshipprogramm für Nachwuchswissenschaftler, insbesondere aus dem Nahen Osten.

In seine Aktivitäten – Seminare und Workshops - sind in großem Maße Wissenschaftler aus den Berliner Universitäten und Forschungseinrichtungen eingebunden. Berliner Wissenschaftler wirken im Beirat oder in der Leitung verschiedener Teilprojekte des Arbeitskreises mit. Derzeit unterstützen wir innerhalb des Arbeitskreises fünf Teilprojekte.

Welche Themen behandeln die Projekte?

Khalil: Alle Teilprojekte haben die Perspektive gemeinsam, mit disziplinär gefassten Projektfeldern Themen innerhalb eines Europa überschreitenden, gemeinsamen Rahmens zu untersuchen. Ein Projekt z.B., "Kulturelle Mobilität in nahöstlichen Literaturen", untersucht Fragen des Kulturtransfers, wie Übersetzung, Exophonie, Kanonbildung oder Ähnliches, ausgehend von nahöstlichen Literaturen, aber eben im Zusammenhang mit der Komparatistik und der Literatur anderer Länder und Regionen.

Wir haben hier institutionelle Kooperationen mit dem Seminar für Arabistik an der Freien Universität Berlin und dem Zentrum für Literaturforschung. In diesem Rahmen richten wir seit drei Jahren ein gemeinsames Seminar aus, in dem Literaturwissenschaftler aus Berlin mit unseren Stipendiaten gemeinsam arbeiten. Weitere Vorhaben beschäftigen sich mit Fragen der jüdischen und islamischen Hermeneutik, mit der vergleichenden Sozialgeschichte osmanischer Handelsstädte oder der Frage nach der Ausstellung von außereuropäischer Kunst in europäischen Städten.

Wir führen jährliche Sommerakademien für Doktoranden und Postdoktoranden durch, die zum Teil in Berlin, aber auch im Nahen Osten stattfinden. Wir laden dazu über internationale Ausschreibungen 20 bis 25 Wissenschaftler für zwei Wochen ein, um ihre eigenen Forschungsarbeiten im Rahmen eines bestimmten Themas vorzustellen. Die letzte Sommerakademie fand in Alexandria zum Thema "Literatur und Grenzen" statt. Wissenschaftler aus 16 Ländern haben daran teilgenommen.

Können Sie uns ein aktuelles Beispiel aus ihrer Arbeit nennen?

Khalil: Im Rahmen des Arbeitskreises "Moderne und Islam" haben wir derzeit 14 Nachwuchswissenschaftler, in der Regel sind das Assistenzprofessoren, die für die Dauer eines Jahres an Berliner Forschungseinrichtungen arbeiten. Z.B. beschäftigt sich derzeit Shereen Abou El Naga, Assistenzprofessorin für Englische Literatur in Kairo, mit Fragen der Konstruktion von kulturellen Bildern, im Sinne der doppelten Bedeutung von Bild und Image.

Hierzu werden wir Ende April einen Workshop organisieren, an dem u.a. Wissenschaftler aus dem Nahen Osten wie Faisal Darrag aus Syrien, Marie-Therese Abdel Messih und Viola Shafiq aus Kairo, Khaled Hroub aus London, aber auch der amerikanische Medienwissenschaftler Tom Mitchell, der zurzeit Fellow des Wissenschaftskollegs ist, oder Monika Flacke, die Kuratorin der Ausstellung "Mythen der Nationen" im Deutschen Historischen Museum, teilnehmen werden.

Welche konkreten positiven Ergebnisse können aus solchen Begegnungen resultieren?

Khalil: Die Ergebnisse im Bereich der wissenschaftlichen Arbeit schlagen sich vor allem in den Köpfen und der eigenen Arbeit der Beteiligten nieder. Man kann das in den Büchern und Texten nachlesen. An unseren Programmen haben bislang über 500 Wissenschaftler teilgenommen; ein großes Netzwerk ist entstanden.

Die Binnenzentrierung der Wissenschaft trägt dazu bei, dass in den Medien und auch in der Politik sehr stark in Dichotomien gesprochen wird: Islam/Europa, Juden/Araber, säkular/religiös usw. Unsere Projekte zielen neben der Überwindung der Grenzen von Disziplinen und Regionen innerhalb der Wissenschaft auch darauf ab, eine gemeinsame Sprache zu finden, die nicht auf Schwarzweißmuster zurückgreift, sondern versucht, gemeinsame Probleme aus unterschiedlichen Perspektiven zu diskutieren. In dem Projekt "West-östlicher-Diwan", das wir unterstützen, geht es um etwas Ähnliches, jedoch mit Schriftstellern.

Wo liegen Schwierigkeiten in der Arbeit des Arbeitskreises "Moderne und Islam"?

Khalil: Eine Schwierigkeit ergibt sich durch die sprachliche Situation. Da im Arbeitskreis zahlreiche Wissenschaftler aus dem Nahen Osten und anderen Ländern einbezogen sind, sind wir darauf angewiesen, unsere Aktivitäten in Englisch zu betreiben, was gelegentlich künstlich wirkt.

Eine weitere Schwierigkeit ist, gute Wissenschaftler aus dem nahöstlichen Raum für einen Aufenthalt zu gewinnen. Das hängt zum Teil damit zusammen, dass die Ausschreibungssysteme und die Kontakte zu den Universitäten noch ausbaufähig sind.

Ein grundsätzliches Problem ist die Zähigkeit der zentralen Paradigmen, die sehr stark auf die deutsche oder europäische Binnenperspektive fokussiert sind. Dies geht oft mit einer ungleichen Kenntnis anderer Kontexte einher. Mit der Ausnahme von Islamwissenschaftlern oder Arabisten, sind deutsche Wissenschaftler in der Regel ahnungslos was grundlegende Kenntnisse nahöstlicher Geschichte und Kultur angeht.

Führt dies zu Spannungen in der gemeinsamen Auseinandersetzung?

Khalil: Gelegentlich ergeben sich auch intellektuelle Spannungen, wenn bei der Diskussion bestimmter Fragen eine europäische Genealogie der Geschichte und der Moderne vorgebracht wird.

Beispielsweise wenn behauptet wird, das Genre der Autobiographie sei spezifisch europäisch-christlich, da es letztendlich auf Augustinus’ Bekenntnisse zurückgeführt werden könne. Augustinus, der in der römischen Provinz Afrika – dem heutigen Tunesien – gelebt hat, wird so als ein Teil einer exklusiv europäisch-christlichen Tradition definiert, die auch zur Begründung des Entstehens von Individualität herangezogen wird. Dadurch wird nicht nur ein Weiterwirken griechischer, römischer und christlicher Kultur im Nahen Osten negiert, sondern auch der Islam als Kulturbruch nach einer geteilten Antike verstanden und ein wesentliches Element der Moderne als europäisch definiert.

Fragen nach unterschiedlichen Ausdrucksformen von Individualität in unterschiedlichen Kontexten sind ein Weg, diese Sichtweise zu überwinden. Deshalb ist die Forschung mit Wissenschaftlern aus anderen Ländern und Regionen von großer Bedeutung.

Wie kommen die Wissenschaftler zu der Gunst hier zu arbeiten, und wie wird die Auswahl getroffen?

Khalil: Im Wissenschaftskolleg werden Wissenschaftler von ehemaligen Fellows nominiert, können sich aber auch selbst bewerben. Es gibt ein akademisches Verfahren, innerhalb dessen ein Beirat entscheidet. Im Bereich des Arbeitskreises "Moderne und Islam" rekrutieren wir Nachwuchswissenschaftler über offene internationale Ausschreibungen, die wir per Post, per Internet und über ehemalige Teilnehmer unserer Programme weltweit versenden. Die Auswahl treffen dann akademische Gremien.

Youssef Hijazi

Übersetzung Youssef Hijazi

© Qantara.de 2005

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Wissenschaftskolleg zu Berlin