Im Zweifel für den Zweifel
Am Anfang tut der Roman sehr geheimnisvoll: 1997 werden von einem Archäologen Pergamentrollen mit aramäischen Aufzeichnungen aus der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts ausgegraben, die sich als die Erinnerungen des ägyptischen Mönches Hypa erweisen. In dem Manuskript zu finden sind zudem Marginalien und Kommentare auf Arabisch, die später ein anderer Mönch, "vermutlich im fünften Jahrhundert islamischer Zeitrechnung", dem Bericht hinzugefügt hat.
Übersetzt wird der Text von einem namenlosen Alexandriner, der mit seiner Arbeit jedoch alles andere als glücklich ist. "Ich habe", notiert dieser im April 2004, "sieben Jahre damit zugebracht, diesen Text aus dem Syrischen ins Arabische zu übertragen. Allerdings bereue ich es, mich mit der Übersetzung dieser Geschichte des Mönches Hypa befasst zu haben, und hüte mich davor, sie zu meinen Lebzeiten zu veröffentlichen."
Postmoderner Kunstgriff
Die vor allem in der Postmoderne oft bemühte Konstruktion des fiktiven Herausgebers, der zögernd Texte veröffentlicht, auf die er mehr oder weniger zufällig gestoßen ist, hat ihren Reiz. Mit ihrer Hilfe wird dem dann folgenden Text gewissermaßen ein Bedeutungsvorschuss mitgegeben.
Paradoxerweise aber wird, und das macht diesen Kunstgriff so postmodern, die Bedeutung des Gesagten zugleich auch in Frage gestellt, da die unklare Überlieferung, die Behauptung, dass es sich um eine Übersetzung handelt und die späteren kommentierenden Zusätze die ganze Geschichte dem Verdacht aussetzen, unzuverlässig zu sein. Erzählt wird so mit doppeltem Boden.
Youssef Ziedan hat sich in seinem 2008 in Kairo erschienenen, 2009 mit dem renommierten arabischen Booker-Preis ausgezeichneten Roman "Azazel" die Konstruktion zunutze gemacht, um einen historischen Roman über eine kirchenpolitisch bewegte Epoche zu schreiben. Der Erzähler Hypa ist ein ständig mit sich ringender Suchender, der von "Azazel", dem Versucher, der einst mit seinen Einflüsterungen Adam verführt und für dessen Vertreibung aus dem Paradies gesorgt hatte, bedrängt wird, "alles aufzuschreiben, was ich in meinem Leben geschaut".
Hypa beginnt im Jahre 431, dem "unseligen Jahr, in dem der ehrwürdige Bischof Nestorius exkommuniziert und verbannt wurde", mit der Niederschrift seiner Lebensgeschichte. Die fiktionale Ebene der persönlichen Sinnsuche Hypas und die tatsächlichen Irrungen und Wirrungen der frühen Kirchengeschichte werden von Ziedan geschickt eng geführt. Nestorius war 431 nach dem Konzil von Ephesus seines Amtes als Patriarch von Konstantinopel enthoben worden, weil er Maria als "Christusgebärerin" (Christotokos) und nicht als "Gottesgebärerin" (Theotokos) bezeichnet hatte.
Streit um die zwei Naturen Christi
Hintergrund war der Streit um die zwei Naturen Christi, die menschliche und die göttliche, wie sie Nestorius und die antiochenische Schule vertraten, während ihr Gegenspieler Kyrill, der Patriarch von Alexandria, darin eine Leugnung der Dreieinigkeit sah. Kyrill gelang es, den römischen Papst auf seine Seite zu ziehen und auf dem Konzil von Ephesus die Lehre von der allein göttlichen Natur Christi durchzusetzen. Der Streit zog damals die Abspaltung der Assyrischen Kirche nach sich.
Theologische Spitzfindigkeiten und sophistische Haarspaltereien sind nicht unbedingt dazu angetan, ein Romanpublikum zu unterhalten. Dass dies Ziedan, Professor für islamische Philosophie und Direktor der Handschriftenabteilung der Bibliothek von Alexandria, dennoch gelingt, liegt vor allem an seinem Erzähler, einer hochsympathischen Figur mit großem moralischen Anspruch und mindestens ebenso großen menschlichen Schwächen.
Hypa hadert mit Gott und Azazel, mit seinem Schicksal und mit den Schwierigkeiten die das Streben schon immer nach sich gezogen hat, dem Leben Sinn zu verleihen. Seine Unrast führt ihn von Achmim in Oberägypten nach Alexandria und weiter nach Jerusalem, wo er Nestorius begegnet. Hypa versteht sich auf die "Medizin und die Kunst der Heilbehandlung", ist Dichter, Philosoph und Mönch, versucht es mit Askese und mit ihrem Gegenteil.
Zwischen Frömmigkeit und Auflehnung
Wie ein Wiedergänger von Hermann Hesses "Siddharta", mit dem der Roman auch den etwas antiquiert wirkenden, romantischen Grundton und die ironiefreie Ernsthaftigkeit gemein hat, pendelt Hypa zwischen Frömmigkeit und Auflehnung, Glaubensgewissheit und nagendem Zweifel.
In Alexandria, der "Stadt der Huren und des Goldes", lässt er sich von Oktavia verführen, meint das Paradies gefunden zu haben, und spürt doch Unsicherheit. Als er ihr gesteht, nicht zu verstehen, was in ihm vorgehe, entgegnet sie: "Du musst das jetzt nicht verstehen, du musst jetzt nur fühlen!"
Als sie sich abfällig über das "rückständige Denken" der "dummen Christen" äußert, gibt er sich als Mönch zu erkennen und es kommt zum Bruch. Leer, als sei er "in ein Nichts gefallen", verlässt er die Stadt mit dem Vorsatz, sich fortan als Asket in einer Höhle "ganz und gar der Anbetung Gottes zu widmen", nur um bald einer anderen Leidenschaft, der griechischen Logik und Mathematik, nachzugeben.
Am Ende erliegt er Marta, wird "ein anderer, als der, den ich all die vergangenen Jahre gekannt hatte" und ist kurz davor, sie zu heiraten, überlegt sich aber auch das nochmal anders.
"In jenen Tagen", notiert er, "war ich wie ein vertrocknetes Blatt, mit dem der Wind sein Spiel trieb... und ich glaube, ich bin heute noch immer so!" Dieser Grundzug seines Charakters färbt auch auf seinen Glauben ab. Dieser sei "so durchlässig wie die Wolken im Sommer; er wirft keinen Schatten", bekennt Hypa und erweist sich in seinem Selbstzweifel als Gegenentwurf zu den ihn umgebenden Pharisäern.
Dem Hauen und Stechen der parallel laufenden Kirchengeschichte, der kleingeistige und von machtpolitischen Motiven, Verfluchungen und Kampf befeuerte Streit um die Dogmen konterkariert Youssef Ziedan damit effektiv.
Der Satan treibt mit allen sein Spiel
Man könnte "Azazel" im Kontext der Mittelalter- und Vatikanthriller-Mode, mit Dan Browns Verschwörungskrimis als Spitze des Eisbergs, verorten, wenn Ziedan in der Darstellung der Gewissenskonflikte seines Helden, seiner Irrungen "durch die Wüsten des Ichs", nicht weit über die Spannungseffekte der reinen Unterhaltungsliteratur hinausginge.
Als Auseinandersetzung mit den Untiefen der Religionen, mit Machtmissbrauch, Gewalt und instrumentalisiertem Hass lässt sich der von Larissa Bender souverän übersetzte Roman nicht zuletzt als Parabel auf die nahöstliche Gegenwart und als Plädoyer für religiöse Toleranz lesen.
"Es gibt keine Häresien, solange es keine Orthodoxie gibt", erkennt Hypa am Ende seiner Aufzeichnungen. "Alle, die hier als Häretiker betrachtet wurden, waren woanders hoch verehrt! Der Satan treibt mit allen sein Spiel." Es gibt keine Wahrheit, zeigt Ziedan, außerhalb der beschwerlichen Suche nach ihr.
Andreas Pflitsch
© Qantara.de 2012
Youssef Ziedan: "Azazel", Aus dem Arabischen von Larissa Bender, Luchterhand Verlag, München 2011, 447 Seiten
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de