Bei der politischen Repräsentation nur im Mittelfeld
Wer die deutsche Staatsbürgerschaft hat und mindestens 18 Jahre alt ist, darf bei der Bundestagswahl am 24. September mitbestimmen, wer künftig die deutsche Politik bestimmt -egal, ob die Familie aus Köln oder Kasachstan, der Türkei oder Polen stammt. Jeder 10. Wahlberechtigte - der natürlich auch selbst kandidieren darf - hat einen Migrationshintergrund: Er oder sie wurde entweder selbst ohne deutschen Pass geboren oder mindestens ein Elternteil.
Auf die größte Gruppe der Wahlberechtigten schauen Parteien und Medien vermehrt, seitdem sich die AfD intensiv um sie bemüht: 3,1 Millionen (Spät-)Aussiedler nennt der Mikrozensus 2016, die meisten aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Zweitgrößte Gruppe: die Türkeistämmigen. Das statistische Bundesamt schätzt, dass knapp 730.000 von ihnen wählen dürfen. An die wandte sich der türkische Präsident mit der Aufforderung, weder CDU, noch SPD oder Grüne zu wählen. "Lasst nicht zu, dass ihr durch Erdoğan an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt werdet", entgegnete Aydan Özoguz (SPD), die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, auf diesen Einmischungsversuch.
Zahlreiche Politiker riefen türkeistämmige Deutsche dazu auf, unbedingt wählen zu gehen. Die Integrationsbeauftragte der Unionsfraktion, Cemile Giousouf, sagte im Deutschlandfunk: "Es geht um euer Leben in Deutschland. Herr Erdoğan wird bei keinem der Probleme, die Menschen hier haben, eine Lösung anbieten können."
Neu-Eingebürgerte an die Wahlurnen
"Wie wählt man eigentlich?" Diese Frage hat Aydan Özoguz immer wieder gehört. Die Wahlbeteiligung von Deutschen mit Migrationsgeschichte liege "bis zu 20 Prozentpunkte" unter der in der Gesamtbevölkerung, sagt sie. Sie fördert das Projekt "Vote D": Es soll Neu-Eingebürgerte und volljährige Kinder von Zuwanderern an die Wahlurnen bringen.
Özoguz' Eltern kamen aus der Türkei, sie wurde in Hamburg geboren. Heute macht die SPD-Vize-Vorsitzende selbst Wahlkampf, so wie auch Cemile Giousouf (CDU). Sie gehören zu den 37 Bundestagsabgeordneten mit Migrationshintergrund - von insgesamt 631 Parlamentariern.
Im Vergleich von acht europäischen Ländern - dem Projekt PATHWAYS - sehen Bamberger Forscher Deutschland bei der politischen Repräsentation im Mittelfeld: "Spitzenreiter sind Großbritannien und die Niederlande, am unteren Ende befinden sich Italien und Spanien", so der Politikwissenschaftler. Es sei aber ein Problem, dass etwa die Hälfte der lange in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Sie würden "systematisch vom politischen Willensbildungsprozess ausgeschlossen". Schuld sei ein "im internationalen Vergleich äußerst rigides Staatsbürgerschaftsmodell", meint Geese.
In Deutschland habe man viel geschafft - und noch viel zu tun, sagt Özoguz: "Man ist als Migrantin ein beliebter Angriffspunkt für Rechte und Rechtsextreme." Dem Grünen-Politiker Omid Nouripour - im Iran geboren - schrieb jemand: "Du Sch... Araber, geh zurück in die Türkei". Sein Parteikollege Özcan Mutlu berichtet von "vielen rassistischen Hassmails".
Rassistische Hetze
Als Alexander Gauland von der rechtspopulistischen AfD davon sprach, Staatsministerin Aydan Özoguz, "in Anatolien zu entsorgen", nannte das auch Kanzlerin Angela Merkel "rassistisch". Politiker mit Migrationshintergrund sind sensibel für Anfeindungen gegen Minderheiten, sagt Özoguz: "Wenn kleine Mädchen in der Grundschule schon das Kopftuch weggerissen bekommen, ist das nicht mehr die freie, offene Gesellschaft, die wir uns wünschen."
Im Parlament müsse es Abgeordnete unterschiedlicher Herkunft und religiöser Orientierung geben: "Wenn Menschen dabeisitzen, die es betrifft, verändert sich die Diskussion." Vielleicht auch die Wahrnehmung: Dem 2013 gewählten Abgeordneten Karamba Diaby (SPD), im Senegal geboren, wollte die Kassiererin in der Bundestagskantine nicht glauben, dass er Parlamentarier ist.
"Ich würde mir wünschen, dass der Migrationshintergrund irgendwann keine Rolle mehr spielt", sagt Cemile Giousouf. "Aber im Einwanderungsland Deutschland ist das ein wichtiges Thema." Sie kam 2013 als erste türkischstämmige CDU-Abgeordnete ins Parlament. SPD, Grüne und Linke haben länger und mehr Abgeordnete mit Migrationsgeschichte. Die Parteien selbst erfassen keine Zahlen.
Präferenz für Parteien der "politischen Linken"
Wähler mit Migrationshintergrund präferierten "Parteien der politischen Linken", schreibt Politikwissenschaftler Andreas Wüst auf Basis internationaler Forschungen. Die seien besonders offen für Mitglieder mit Einwanderungsgeschichte und deren Themen.
Migranten wissen genau, wer aus ihrer Community im Bundestag vertreten ist, sagt Dennis Spies. Der Kölner Forscher untersucht für die Bundestagswahl 2017, wem migrantische Wähler ihre Stimme geben und warum. Erforscht werden die größten Gruppen: Russlanddeutsche und Türkeistämmige.
Russlanddeutsche, (Spät-)Aussiedler aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion mit deutschen Wurzeln, sind eine deutsche Besonderheit, sagt Spies: Sie gelten vom ersten Tag an als Deutsche und dürfen wählen. CDU-Kanzler Helmut Kohl setzte sich nach dem Zerfall der Sowjetunion für ihre Anerkennung ein. Sie waren den Konservativen dankbar und galten lange als treue Wähler. Doch seit der Aufnahme vieler Flüchtlinge 2015/16 fremdeln viele. "Neid spielt eine Rolle", konstatiert Dennis Spies.
Russlanddeutsche als Zielgruppe
Bei Landtagswahlen punktete die AfD in Stimmbezirken mit besonders vielen Russlanddeutschen. Dennis Spies sagt: "Die AfD hat ein russischsprachiges Parteiprogramm, eine Gruppe Russlanddeutscher und Aussiedler, russische Plakate und spricht Russlanddeutsche direkt an." Keine andere Partei bemühe sich so sehr um sie.
Die SVR-Studie vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration nannte 2016 eine Parteipräferenz von gut 45 Prozent für die CDU/CSU - weit weniger als in früheren Studien.
Die Unionsparteien reagieren: Kanzlerin Angela Merkel empfing erstmals einen Verband Russlanddeutscher im Kanzleramt. Im NRW-Wahlkampf warb der CDU-Spitzenkandidat in einer russischen Zeitung. In ihrem Bundestagswahlprogramm versprechen CDU und CSU den Aussiedlern höhere Rentenleistungen.
"Seit wann darf ein Türke da oben sitzen?", beschwerte sich 1994 ein Anrufer über den Grünen Cem Özdemir im Bundestagspräsidium, während Kanzler Helmut Kohl sprach. Eine SPD-Politikerin und der "anatolische Schwabe" Özdemir waren die ersten Türkeistämmigen im deutschen Parlament. Heute haben elf Abgeordnete türkische Wurzeln, keine Migrantengruppe ist stärker vertreten.
Türkeistämmige fühlten sich traditionell der SPD verbunden, knapp 70 Prozent nennt die SVR-Studie. Eine Folge der Gastarbeiter-Zeit: Arbeiter, das hieß Gewerkschaft und damit SPD, sagt Aydan Özoguz. Die SPD setzte sich für die doppelte Staatbürgerschaft und die Rechte der Zuwanderer ein, später auch Grüne und Linke.
Werben um Verständnis bei den Türkeistämmigen
Im Konflikt mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan wird der Ton immer schärfer. CDU-Chefin Angela Merkel und Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel warben um Verständnis bei den Türkeistämmigen. Viele von denen sind - offenbaraus Sorge vor Spitzelei aus der Türkei - sehr vorsichtig bei politischen Äußerungen, berichtet Politikwissenschaftler Dennis Spies von ersten Erfahrungen bei der Wahlstudie.
Frustriert ist Grünen-Politiker Özcan Mutlu, wenn er selbst im Bundestag immer als "der Türke" gesehen wird. "Ich bin Deutscher und habe nur die deutsche Staatsbürgerschaft. Kapieren Sie das einfach mal!", kritisierte er einen CDU-Abgeordneten. Der hatte gesagt: "Ihr Präsident Erdoğan".
Dennis Spies sagt: "Die politische Macht der Migranten ist gering. Die Gruppe wächst, ist aber sehr stark gespalten." Von den Menschen mit russischem Hintergrund komme vielleicht ein Drittel aus der Ukraine, eine kleinere Gruppe aus Kasachstan und der Großteil aus Russland selbst. "Wenn Sie fragen: 'Was halten Sie von Putin?'" erläutert Dennis Spies, "sagen 50 Prozent: 'Den liebe ich', und 50 Prozent: 'Den hasse ich abgrundtief'. Das gilt analog für Erdoğan und Personen aus der Türkei."
Dennis Spies hält fest: "Es gibt nicht DIE Migranten als Wähler. Warum sollte jemand aus der Ukraine, der seit 20 Jahren in Deutschland lebt, die gleichen politischen Präferenzen haben, wie jemand, der aus der Südosttürkei hierhin gezogen ist? Warum sollte der vergleichbar sein mit jemandem, der in den 1950er Jahren aus Italien gekommen ist?"
Die Gruppe der Menschen mit Migrationsgeschichte werde wichtiger. Das heiße nicht, dass sie "einfach abzugreifen ist von einer deutschen Partei" und schon gar nicht, dass "die Migranten" die Macht übernehmen. Entsprechend gering schätzen Wissenschaftler die Chancen reiner "Migrantenparteien" ein. Je länger Menschen in Deutschland leben, desto mehr ähnelt ihr Wahlverhalten dem der Mehrheitsbevölkerung.
Andrea Grunau
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