Aus den Sandlöchern in die digitale Bibliothek
Abdelkader Haidara ist ein Mann, der E-Mails rasch beantwortet. Gut vernetzt in der modernen Welt ist dieser rundliche, freundliche Malier zugleich in einer ganz anderen Epoche zu Hause: in jenen Jahrhunderten, als seine Heimatstadt Timbuktu eine Hochburg islamischer Gelehrsamkeit war.
Rund 100 000 alte Handschriften zeugen heute von dieser Epoche. Verfasst in Arabisch, damals die Sprache der Elite Westafrikas, behandeln sie islamisches Recht, Philosophie, Medizin, Astronomie und Mathematik. Haidara besitzt eines der ältesten Manuskripte: ein Koran aus dem 13. Jahrhundert, geschrieben auf Gazellenhaut.
Von seinem Vater hat Haidara 9000 Manuskripte geerbt; das ist die größte private Sammlung in Timbuktu. Haidara hat sie für die Allgemeinheit geöffnet und zugleich einen neuen Trend begründet: Die privaten Besitzer sollen ihre Schätze nicht in die Obhut des malischen Staates geben, sondern sie selbst bewahren. "Die Familien sind der beste Hüter ihres eigenen intellektuellen Erbes", sagt er.
Kann das funktionieren? Immerhin geht es um den Erhalt und die Konservierung hochfragiler historischer Dokumente. Außerdem verknüpfen westliche Experten mit der Finanzierung von Förderprojekten die Erwartung, dass die sogenannte "älteste Bibliothek südlich der Sahara" bald in digitaler Form für wissenschaftliche Auswertung verfügbar sei. Doch in Timbuktu ist bei den Manuskript-Besitzern ein neues störrisches Selbstbewusstsein gewachsen.
Vergilbte und vergoldete Kalligrafien
Europäer assoziieren mit dem Ort bis heute das Ende der Welt. Tatsächlich war die Stadt über Jahrhunderte ein Zentrum der südlichen Welt: Hochburg des Handels, islamische Universitätsstadt. Wo sich im heutigen Mali das Niger-Delta und die Sahara begegnen, kreuzten sich damals die Highways der Zeit: Aus dem Norden kamen die Karawanen, über den Fluss kam das Gold Westafrikas. Den Händlern folgten die Gelehrten. Im 15. Jahrhundert hatte Timbuktu 25 000 Studenten, annähernd so viele, wie die Stadt heute Einwohner zählt.
Seit einigen Jahren öffnen die Familien jene Truhen, in denen sie vergilbte und vergoldete Kalligrafien verwahrten. Medienberichte machten daraus einen neuen Timbuktu-Mythos: auf "Wüstenrollen" sei die verborgene Geschichte Afrikas verzeichnet. Tatsächlich sind die Manuskripte vor allem der Beweis, "dass Afrika seit nahezu tausend Jahren am islamischen Wissen teilhat", meint der deutsche Islamwissenschaftler Albrecht Hofheinz; er betreut an der Universität Oslo ein Projekt zur Digitalisierung der Handschriften.
Manche kamen aus Andalusien, aus Nordafrika und dem Nahen Osten, andere wurden in Timbuktu von afrikanischen Autoren verfasst. Auch afrikanische Sprachen wurden in Arabisch geschrieben, für diplomatische Korrespondenz und Verträge.
Sandlöcher als Versteck gegen fremde Zugriffe
Anders als die meisten seiner Landsleute im französischsprachigen Mali hat Abdelkader Haidara, 45, eine arabischsprachige Bildung genossen. In seiner Familie blieb das arabisch-islamische Erbe lebendig; seit dem 16. Jahrhundert übergab eine Generation der nächsten die Manuskripte.
Haidaras Vater studierte im Sudan und in Ägypten, kaufte Schriften an und kopierte noch selbst von Hand. Zur gleichen Zeit schlossen viele andere Familien in Timbuktu ihre Büchereien weg, versteckten sie manchmal sogar in Sandlöchern – aus Furcht, sie würden von den französischen Kolonialherren konfisziert. In der früheren Königsstadt Segou hatten sich die Franzosen bereits an wertvollen Manuskripten vergriffen; sie liegen bis heute in der Pariser Nationalbibliothek.
Als Propagandist der Privatinitiative ist Abdelkader Haidara jedoch eine Art Konvertit. Nahezu 20 Jahre lang hat er selbst als Manuskript-Ankäufer für das staatliche Ahmed-Baba-Institut in Timbuktu gearbeitet; hier liegen nunmehr etwa 30 000 Handschriften.
Haidara hat Hunderte von Familien überzeugt, ihr Erbe für relativ geringe Beträge - der malische Staat ist arm - aus der Hand zu geben. Aber als er für die eigene Familienbibliothek verantwortlich wurde, änderte er seine Haltung radikal. Das Testament, wie es seit Generationen weitergegeben wurde, verbot den Verkauf – und Haidara machte aus der Verpflichtung eine Leidenschaft.
Als erster eröffnete er 1993 eine private Bibliothek und beschwor andere Familien, es ihm gleich zu tun. Daraus wurde in der Tat ein Boom: Heute zählt Timbuktu schon 32 solcher Familienbibliotheken. Die Leute sind sich zunehmend des Werts ihres Erbes bewusst, auch des materiellen Werts.
Aus verstaubten Truhen in die digitale Bibliothek
Als Haidara vor anderthalb Jahrzehnten im Ausland erstmals finanzielle Unterstützung suchte, mochte ihm niemand die Geschichte einer alt-afrikanischen Bibliothek glauben.
Die Wende kam 1997 in Gestalt eines schwarzen Amerikaners: Henry Louis Gates, Leiter der African American Studies an der Universität Harvard, sah die Manuskripte, war begeistert und fand in den USA Geldgeber für die Bibliothek. Haidara kichert: "Ist es nicht seltsam, dass dieser Gates später auf ganz andere Weise berühmt wurde?" Der Afro-Amerikaner wurde an seiner eigenen Wohnungstür als vermeintlicher Einbrecher verhaftet – ein Zeichen, wie Rassismus auch in der Ära Obama wirksam bleibt.
Aus Haidaras Bibliothek, benannt nach seinem Vater Mamma Haidara, ist mittlerweile ein Betrieb mit 12 Angestellten geworden. 2008 half ihm das "Juma Al Majid Center for Culture and Heritage" in Dubai bei der Einrichtung eines Labors für die Reparatur, die Konservierung und die Digitalisierung der Schriften. Während im staatlichen Ahmed-Baba-Institut die Handschriften gescannt werden, werden sie bei Haidara digital fotografiert: "Das ist der neueste Stand der Technik", sagt Haidara stolz, "und viel schonender für die Manuskripte."
Sogar das säurefreie Papier, das für die Reparatur zerfallender Dokumente nötig ist und bisher teuer importiert werden musste, stellt er nun in eigener Werkstatt her. Und denkt dabei schon an neue Projekte: "Timbuktu-Papier! Was könnten wir damit alles machen! Geschenkartikel für die Touristen - oder wir könnten es exportieren."
Handschriftenkunde am Ende der Welt
Im Obergeschoss findet gerade ein Workshop statt. Mauren mit kurzem Kinnbart, Tuareg mit Turban und Lesebrille, afrikanische Gesichter – der gemischten Versammlung von Manuskriptbesitzern wird ein digitaler Katalog erklärt.
Eingeladen hat die Nichtregierungsorganisation Savama; sie bemüht sich um die Popularisierung des Erbes: mit örtlichen Übersetzungs-Kommissionen und Ferienkursen. "Manuskripte zu besitzen, die man nicht verstehen kann, das ist beschämend", sagt Haidara. "Wir sind dabei, unsere islamische Kultur zu verlieren. Die Schulen der Sufis, die in Timbuktu einen toleranten Islam gelehrt haben, sind fast alle verschwunden. Und die besten Historiker Malis sprechen kein Arabisch."
Bald will er eine CD mit Übersetzungen exemplarischer Texte herausgeben, über friedliche Konfliktlösung und Good Governance. "Denn die Westler kommen ja immer her und machen glauben, sie hätten das alles erfunden."
Das Telefon klingelt. Haidaras Augen leuchten auf: Aus Katar sind tausend Bücher unterwegs zu ihm, sagt er: als wissenschaftliche Referenzbibliothek für das Studium der alten Schriften. Und nächste Woche kommen Südafrikaner von der Uni Kapstadt, machen bei ihm ein Symposium. Viel zu tun, am Ende der Welt.
Charlotte Wiedemann
© Qantara.de 2010
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de
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