Kalter Wind über dem Tur Abdin
In der Südosttürkei ist ein Nachbarschaftsstreit zum Religionskrieg eskaliert, seitdem sich die Klostergemeinde Mar Gabriel mit den umliegenden arabischen und kurdischen Dörfern um ein paar Hektar steinigen Boden streitet. Einzelheiten von Susannne Güsten
Schwalben tschilpen bei der morgendlichen Andacht in der Kapelle von Sankt Gabriel in Südostanatolien. Hoch über dem Kopf eines schwarzbärtigen Mönches schießen sie hin und her, tauchen durch die rundgemauerten Bogenfenster aus dem Sonnenlicht hinein in die halbdunkle Kapelle und begleiten den sonoren Gesang des Mönches mit ihrem hellen Zwitschern.
Ansonsten herrscht Stille im Kloster Sankt Gabriel. Die Nonnen rühren in der Klosterküche den Weizengrieß für das Mittagessen, der Bischof brütet in seinem Amtsraum, die Klosterschüler pauken in Seminarräumen mit ihren "Malfone" genannten Lehrern das aramäische Alphabet, und die Schwalben haben die weitläufigen Innenhöfe und Freitreppen des Klosters für sich.
In der Ferne ist das Blöken einer Schafherde zu hören, die auf der Landstraße nach Irak vorbeigetrieben wird.
Seit mehr als eineinhalb Jahrtausenden hat sich am Leben hier in einem der ältesten christlichen Klöster der Welt nicht viel mehr geändert, als dass der Sekretär des Bischofs jetzt auf einem Laptop herumtippt.
Doch die Ruhe und den Frieden, die über dem Kloster und den sanften Hügeln ringsum zu liegen scheinen, vermögen die Klosterbewohner derzeit nicht zu spüren. Immer wieder schlurft Bischof Timotheos aus seinem Amtsraum und wandelt, rastlos wie ein Gespenst, Türen knallend durch das Kloster.
"Wir einheimischen Christen sind besorgt", sagt sein Sekretär Can Gülten und klappt seinen Laptop zu. Und nicht nur sie: Von den kurdischen und arabischen Dörfern in Sichtweite des Klosters über Ankara bis in die Hauptstädte von Westeuropa reicht die Besorgnis um einen Grundstücksstreit, der seit einem dreiviertel Jahr fern hinten in der Türkei eskaliert.
Der Landfrieden ist dahin
"Ganz Europa stürzt sich da drauf", wundert sich Ismail Erkan, der Ortsvorsteher eines arabischen Nachbardorfes. Der Gehstock, auf den sich der massige Mittfünfziger stützt, steckt im schlammigen Weg zwischen Lehmziegelhütten und bröckelnden Betonbaracken.
Yayvantepe heißt der Ort, er liegt knapp drei Kilometer vom Kloster entfernt und ist einer von einem halben Dutzend Konfliktparteien in dem Streit um Sankt Gabriel. Ein Streit, der indirekt von Europa ausgelöst worden ist: Seit im letzten August die Landvermesser auftauchten, um Grundbücher nach EU-Standard anzulegen, ist der Landfrieden hier dahin.
Mit dem Ergebnis der Grenzvermessungen waren nämlich weder das Kloster noch die umliegenden Dörfer einverstanden. Um ein paar Hektar steinigen Boden streiten sich seither das Kloster, das arabische Dorf Yayvantepe, die kurdischen Dörfer Eglence und Candarli, das türkische Schatzamt und die Forstbehörde.
Schmelztiegel der Religionen
Ausgefochten wird der Streit vor den Gerichten in der Kreisstadt Midyat, der wohl multikulturellsten Stadt der Türkei. Ein aus Kalkstein gemeißelter Obelisk an der Ortseinfahrt zeigt auf der einen Seite das Stadtwappen, auf den anderen drei Seiten eine Kirche, eine Moschee und den Pfauenengel der Jesiden: Die Kleinstadt ist stolz darauf, dass alle drei Religionen hier zusammenleben.
Über den Marktplatz von Midyat schlendern Kurden im Turban, Araber mit Keffiyeh, barhäuptige Christen und bärtige Muslime mit einer Kappe auf dem Kopf. Viele alt eingesessene Einwohner sprechen ganz selbstverständlich vier Sprachen: Kurdisch, Türkisch, Aramäisch und Arabisch. Einer von ihnen ist Rudi Sümer, der junge Rechtsanwalt, der das Kloster Sankt Gabriel in dem Streit vertritt.
In seinem Büro in einer Passage am Marktplatz breitet Sümer seine Argumente aus. Die Grenzen des Klosters, so illustriert der 27jährige mit alten Urkunden, Dokumenten und Luftbildern, sind seit 1938 aktenkundig und 1950 noch einmal behördlich bestätigt worden.
Zu Unrecht hätten die Landvermesser dem Drängen der umliegenden Dörfer nachgegeben und die Grenzen mitten zwischen Kloster und Dörfern gezogen, wodurch ein Teil des klösterlichen Landes an die Dörfer fiel. Das Kloster legte Einspruch beim Katastergericht ein, scheiterte damit und klagte dann vor dem Bezirksgericht.
Die Dörfer reagierten mit einer Strafanzeige, das Kloster habe sich staatlichen Wald einverleibt, was wiederum das Schatzamt und die Forstbehörde aufmerken ließ. Inzwischen laufen gleich drei Prozesse vor dem Bezirksgericht, dem Amtsgericht und dem Katastergericht.
Tur Abdin – einer der ältesten christlichen Orte
Ein buntes Gedränge herrscht an den Prozesstagen vor dem Justizgebäude von Midyat, denn die Schaulustigen kommen von Nah und Fern: aus den aramäisch-christlichen Dörfern der Umgebung ebenso wie aus der aramäischen Diaspora in Westeuropa, wo heutzutage weit mehr Christen aus der Südosttürkei leben als hier in der Tur Abdin genannten Gegend selbst, einem der ältesten christlichen Landstriche der Welt.
Bei den Massakern an den Armeniern vor knapp hundert Jahren schon dezimiert, wanderten die meisten Aramäer in den letzten Jahrzehnten aus - auf der Flucht vor Armut, vor Diskriminierung und vor allem vor dem Krieg zwischen kurdischen Rebellen und türkischer Armee, in dem sie zwischen die Fronten geraten waren.
Zwar hat inzwischen eine vorsichtige Rückkehrbewegung eingesetzt, in der aramäische Familien aus Deutschland, Schweden und der Schweiz auf den Tur Abdin zurückkehren und ihre vom Krieg zerstörten Dörfer wieder aufbauen; die Provinzregierung unterstützt sie mit Stromleitungen und Straßenbau.
Der Großteil der Diaspora bleibt aber misstrauisch gegenüber den Versicherungen der türkischen Regierung, die Rückkehrer seien willkommen.
"Rettet das Kloster Mar (Sankt) Gabriel, rettet das Christentum in der Türkei", fordern ihre Angehörigen bei Demonstrationen in Deutschland: In dem Grundstücksstreit sehen sie einen Versuch, dem Kloster die Existenzgrundlage zu entziehen und die letzten Christen aus ihrer angestammten Heimat zu vertreiben.
Auf dem staubigen Platz vor der Dorfmoschee von Yayvantepe sieht der Fall anders aus. "Wir haben überhaupt nichts gegen die Christen", empört sich ein alter Mann in rot-weißer Keffiyeh. "Aber sie tun uns Unrecht."
Schnell haben sich einige der Männer gestikulierend vor der Moschee zusammengefunden. "Das Kloster hat doch angefangen mit den Prozessen, die sind doch gegen uns vor Gericht gegangen", sagt einer von ihnen. "Da haben wir sie eben auch verklagt, das ist nur ehrenhaft."
Ortsvorsteher Ismail Erkan lässt sich auf einen Hocker sinken. "Sehen Sie mal, bei uns ist das so", sagt er. "Wenn es bei uns Streit gibt zwischen zwei Stämmen oder zwei Dörfern, dann ist es Brauch und Sitte, dass ein Vermittler die beiden Seiten zusammenführt und sie versöhnt."
Zweimal seien die Ortsvorsteher der Dörfer zum Kloster gegangen, um eine Vermittlung vorzuschlagen. "Aber nein, das Kloster wollte das nicht." Dass die Klostergemeinde stattdessen vor Gericht ging, das nehmen ihr die Männer auf dem Dorfplatz übel.
Vergiftetes Klima
Das Klima auf dem Tur Abdin ist inzwischen gründlich vergiftet. Seit vergangenen Dezember ziehen sich die Gerichtsverfahren in der Kreisstadt Midyat hin. "Wir sind guter Hoffnung, dass die Gerichte sich auf die Fakten und Dokumente stützen und ein gerechtes Urteil fällen werden", sagt Can Gülten, der Sekretär des Bischofs.
Um den Christen des Tur Abdin den Rücken zu stärken, geben sich Politiker aus Deutschland und anderen europäischen Ländern noch während des laufenden Gerichtsverfahrens bei Solidaritätsbesuchen im Kloster die Klinke in die Hand – was wiederum die muslimischen Dorfbewohner verbittert: Das Kloster bekomme christliche Schützenhilfe aus Europa, murren die Männer vor der Moschee.
Auch die türkische Regierung spürt den kritischen Blick der Europäer. "Wir wollen das Problem nicht zur internationalen Krise werden lassen", verlautete kürzlich aus der Regierungspartei AKP: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan habe das Schatzamt und das Forstministerium angewiesen, eine gütliche Einigung mit dem Kloster zu finden.
Ob es zu einer solchen politischen Einigung kommt oder doch noch zum Gerichtsurteil, eines wird auf dem Tur Abdin jedenfalls bleiben vom Streit um Sankt Gabriel. "Wir gehen jetzt nicht mehr beieinander ein und aus", sagt Ortsvorsteher Ismail Erkan aus dem Nachbardorf. "Zwischen uns herrscht jetzt Kälte."
Susanne Güsten
© Qantara.de 2009
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