Eine Richtungswahl für die Türkei 

In den Umfragen liegt der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdarogu bei den Wahlen am 14. Mai vor Staatschef Erdogan. Wird es zu einem Ende der Ära Erdogan kommen? Eine Analyse von Yasar Aydin

Von Yaşar Aydın

Der Wahlkampf läuft auf Hochtouren. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan wird nicht müde, auf bereits realisierte Infrastrukturprojekte zu verweisen und weitere Großprojekte anzukündigen. Gleichzeitig attackiert er die Opposition – diese würde im Falle eines Wahlsiegs die vitalen nationalen Interessen verraten, religiöse Befindlichkeiten breiter Bevölkerungsschichten missachten und die Terrorbekämpfung aussetzen. Der Präsident setzt auf eine Doppelstrategie: Einerseits verspricht er Wohlstand und Modernisierung, andererseits schürt er Ängste, polarisiert und stigmatisiert. 

Viel steht für ihn und sein Wahlbündnis auf dem Spiel. Die Allianz der Nation könnte mit ihrem Kandidaten Kılıçdaroğlu Erdoğan ablösen und die Parlamentsmehrheit an sich reißen. Das wäre das Ende der Ära Erdoğan – womöglich auch das Aus für seine politische Karriere überhaupt. Sollte er die Wahl verlieren, drohen ihm und seiner Familie außerdem Anklagen wegen Korruption. 

Oppositionsführer Kılıçdaroğlu weckt mit seiner kreativen Kampagne und einer integrativen Rhetorik Hoffnungen in der Bevölkerung – auch jenseits der moderaten Linken, über Anhänger Atatürks und der Aleviten hinaus. Religiös-konservativ und moderat national eingestellten Bürgern begegnet er mit Empathie und gewinnt ihren Zuspruch. 

Ein Kombibild von den türkischen Präsidentschaftskandidaten: Muharrem Ince, Recep Tayyip Erdogan, Kemal Kilicdaroglu, Sinan Ogan; Foto: Emin Sansar/AA/picture-alliance; Adem Altan/AFP; Burhan Ozbilici/AP/picture-alliance
Vier Kandidaten für das höchste türkische Amt: Muharrem Ince von der bündnislosen MP – Heimatpartei (oben links), einer Abspaltung von der CHP, der amtierende Staatschef Recep Tayyip Erdogan (oben rechts), Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu vom Bündnis "Allianz der Nation" (unten links) sowie Sinan Ogan von der rechtspopulistischen Siegespartei (Zafer Partisi), ZP (unten rechts).

Währungskrise, Inflation und Führungsschwäche 

Für die Wahlen am 14. Mai 2023 könnte die innenpolitische Situation in der Türkei – aus Sicht des Regierungsblocks – ungünstiger nicht sein. Seit Ende 2019 ist die Inflationsrate zweistellig, zuletzt lag sie bei über 50 Prozent. Die Arbeitslosenquote beträgt aktuell 10 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 19,2 Prozent.

Der anhaltende Währungsverfall feuert die Energiepreise an, da die Energieträger aus dem Ausland importiert werden müssen. Das wiederum sorgt zusätzlich für Inflation, in vielen Haushalten schwindet der Wohlstand genauso wie das Vertrauen in die Regierung. 

Für großen Unmut sorgte auch das staatliche Missmanagement bei der Erdbebenkatastrophe. Die Regierung vermochte tagelang nicht, ausreichend Rettungskräfte für das Katastrophengebiet zu mobilisieren und – auch nach Wochen – für alle Betroffenen Notunterkünfte bereitzustellen.



Für weitere Spannungen sorgte die Enthüllung, dass der türkische Rote Halbmond "Kızılay“ in den ersten Tagen nach dem Beben die dringend gebrauchten winterfesten Zelte für 2,3 Millionen Euro an die private Hilfsorganisation Ahbap verkauft hatte, anstatt sie auf schnellstem Weg kostenfrei den Erdbebenopfern zur Verfügung zu stellen.  

Wirtschaftliche Misere, Führungsschwäche in der Katastrophenbekämpfung und schlechte Umfragewerte lassen den Druck auf den Präsidenten wachsen, die Führungsriege des Landes zeigt sich mit jedem Tag sichtbar nervöser.  

Keine Parlamentsmehrheit für den Regierungsblock 

Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, bei denen 64,2 Millionen Türkinnen und Türken - 3,29 Millionen von ihnen im Ausland – zur Wahl aufgerufen sind, sind richtungsweisend. Sie werden nicht nur über die Zukunft des Landes, über die Chancen für eine demokratische Transformation und Wohlstand in der Türkei entscheiden.


Herausforderer Kemal Kilicdaroglu (Archivbild); Foto: Adem Altan/AFP/Getty Images
Gute Umfragewerte: Die Allianz der Nation könnte mit ihrem Kandidaten Kılıçdaroğlu Erdoğan ablösen und die Parlamentsmehrheit an sich reißen. Der Oppositionsführer weckt mit seiner kreativen Kampagne und einer integrativen Rhetorik Hoffnungen in der Bevölkerung – auch jenseits der moderaten Linken, über Anhänger Atatürks und der Aleviten hinaus. Religiös-konservativ und moderat national eingestellten Bürgern begegnet er mit Empathie und gewinnt ihren Zuspruch. 



Ein möglicher Regierungswechsel wird auch Folgen für die bilateralen Beziehungen zwischen der Türkei und Russland, für den Bürgerkrieg in Syrien, die Spannungen im östlichen Mittelmeerraum sowie auf das transatlantische Bündnis und die türkisch-europäische Flüchtlingskooperation haben. 

Vier Wahlbündnisse ringen um die Parlamentsmehrheit. Die oppositionelle Allianz der Nation vereint sechs Parteien, die allesamt pro-europäisch ausgerichtet sind. Die von Atatürk gegründete CHP – Republikanische Volkspartei ist kemalistisch-sozialdemokratisch; İYİ – Gute Partei – eine Abspaltung der MHP – Partei der Nationalistischen Bewegung – ist national-wirtschaftsliberal orientiert, die DP – Demokratische Partei liberal-konservativ; DEVA – Partei für Demokratie und Fortschritt und GP – Zukunftspartei – jeweils Abspaltungen der AKP – sind liberal-konservativ; die SP – Partei der Glückseligkeit ist islamistisch orientiert. CHP und İYİ Partei zielen auf eine Rückkehr in das parlamentarische System. 

Die CHP liegt in Umfragen bei 27 bis 30 Prozent, die İYİ Partei bei 10 bis 13 Prozent. Die Kandidatinnen und Kandidaten von Deva, GP, SP und DP treten nicht selbstständig an, sondern auf der Wahlliste der CHP. Damit könnte die Allianz der Oppositionsparteien insgesamt 43 Prozent der Stimmen auf sich vereinen.  

Bei einer derartigen Konstellation käme der Allianz für Arbeit und Freiheit die Rolle der Mehrheitsbeschafferin zu. Diese vereint fünf Parteien: Die YSP – Grüne Linke Partei – Nachfolgerin der prokurdisch-linken HDP hat ein prokurdisch-föderalistisches und linksliberal bis sozialistisches Profil, sie ist NATO-kritisch und teilweise separatistisch orientiert. Die sozialistischen bzw. kommunistischen Parteien TİP, EMEP, EHP und TÖP sind allesamt Nato- und teilweise auch EU-feindlich. 



Die Volksallianz, geführt von der islamisch-konservativen AKP – Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung von Erdoğan, vereint die rechtsradikal-nationalistische MHP, die EU-feindlich und panturkistisch orientiert ist, die islamistische BBP – Partei der Großen Einheit, Hüda-Par – Partei Gottes und YRP – Neue Wohlfahrtspartei zu einem Wahlbündnis. Während die drei Splitterparteien EU-feindlich und panislamisch eingestellt sind, sind AKP und MHP EU-skeptisch und neoosmanisch bzw. panturkistisch orientiert.  


Ein Wahlplakat von Erdogan verkündet teure Wahlversprechen; Foto: Anne Pollmann/dpa/picture-alliance
Teure Wahlkampfversprechen: Ein Wahlkampfplakat Erdogans im Istanbuler Stadtteil Sisli verspricht Haushalten ein Jahr lang Gas gratis. Erdoğan ist unter Druck, denn er liegt seit Monaten in den Wahlumfragen deutlich unter 50 Prozent, zuletzt bei knapp 44 Prozent. Aber man dürfe den amtierenden Staatspräsidenten nicht vorschnell abschreiben, meint Yasar Aydin. Er habe ein auf sich zugeschnittenes autokratisches System etabliert, die staatlichen Institutionen kolonisiert, die Kontrolle über die Judikative an sich gerissen und das Amt mit einer großen Machtfülle ausgestattet. Durch die Kontrolle des Obersten Wahlausschusses sowie der Regulierungsbehörde für Rundfunk und Fernsehen und Medien bestimmt er die öffentlichen Diskurse und dominiert die Wahlkampagne.



Die AKP liegt in den Wahlumfragen zwischen 32 und 34 Prozent, die MHP bei etwa 7 Prozent – somit ist die Volksallianz knapp im Rückstand gegenüber der oppositionellen Allianz der Nation

Das nationalistische Bündnis für die Ahnen, geführt von rechtspopulistischen ZP – Partei des Sieges, einer Abspaltung der MHP, ist EU-kritisch, panturkistisch und migrationsfeindlich. Die weiteren Parteien AP, ÜP und TIP lassen sich als liberal-konservativ bis nationalistisch einstufen. Eine weitere Partei im Rennen ist die bündnislose MP – Heimatpartei, eine Abspaltung von der CHP. Die kemalistisch-sozialdemokratisch und proeuropäisch eingestellte Partei hat für die Präsidentschaftswahl einen eigenen Kandidaten aufgestellt. 

Es ist nicht belanglos, wer die Parlamentsmehrheit erringt – die Nationalversammlung erlässt und ändert Gesetze, hebt diese auf, verabschiedet den Haushalt, entscheidet über Kriegserklärungen, militärische Auslandseinsätze und die Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge. Mit einer Zweidrittelmehrheit kann das Parlament sich selbst auflösen und damit Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ansetzen. 

Gleichwohl wurde das Parlament mit der Verfassungsänderung von 2017 deutlich geschwächt und seine Kontrollkompetenzen gegenüber der Exekutive weitgehend eingeschränkt. Die exekutive Macht liegt nicht mehr beim Regierungskabinett, das sich aus Abgeordneten rekrutiert und vom Parlament bestätigt und kontrolliert wird, sondern beim Staatspräsidenten, der das Land mit großer Machtfülle und unter Umgehung des Parlaments via Dekret regieren kann. 

Kampf um das Amt des Staatspräsidenten 

Vier Kandidaten ringen um das Amt des exekutiven Staatspräsidenten: Der amtierende Staatspräsident Erdoğan (AKP), Oppositionsführer Kılıçdaroğlu (CHP), Muharrem İnce (MP) und Sinan Oğan (Zafer Partisi, ZP). Erdoğan gilt nicht als Favorit – er liegt seit Monaten in den Wahlumfragen deutlich unter 50 Prozent, zuletzt bei knapp 44 Prozent.

Ein Markt in Istanbul; Foto: olga Ildun/ZUMAPRESS/picture-alliance
Abstimmung mit dem Portemonnaie? Für die Wahlen am 14. Mai 2023 könnte die innenpolitische Situation in der Türkei – aus Sicht des Regierungsblocks – ungünstiger nicht sein. Seit Ende 2019 ist die Inflationsrate zweistellig, zuletzt lag sie bei über 50 Prozent. Die Arbeitslosenquote beträgt aktuell 10 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 19,2 Prozent. Auf den Märkten spüren die Menschen die Folgen der Inflation. Der anhaltende Währungsverfall feuert die Energiepreise an, da die Energieträger aus dem Ausland importiert werden müssen. Das wiederum sorgt zusätzlich für Inflation, in vielen Haushalten schwindet der Wohlstand genauso wie das Vertrauen in die Regierung. 



Kılıçdaroğlu konnte sich in der Wählergunst von knapp 40 (März 2023) auf 47 Prozent steigern. Hält dieser Trend an, könnte er das Rennen vor Erdoğan beenden und sich eine günstige Ausgangslage für die Stichwahl erarbeiten.



Muharrem İnce liegt weit abgeschlagen zurück – es ist durchaus möglich, dass seine Sympathisanten ihm am Wahltag die Gefolgschaft verweigern, um nicht dem amtierenden Staatspräsidenten in die Hände zu spielen. İnce hatte 2018 Erdoğan herausgefordert und unterlag ihm damals mit ca. 30 Prozent der Stimmen beim ersten Wahlgang. Der Kandidat der rechtspopulistischen Siegespartei, Sinan Oğan, liegt in den Umfragen bei etwa zwei Prozent. 

Im Falle eines Wahlsieges wäre Kılıçdaroğlu der erste bekennende Alevit im Amt des Staatspräsidenten. Es war sein Verdienst, Oppositionsparteien unterschiedlicher Couleur zu einem Wahlbündnis zu vereinen. Unterstützt wird er auch von der Allianz für Arbeit und Freiheit, die keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt hat.



Das wiederum setzt ihn der Kritik aus und hat bereits zu Verstimmungen mit Meral Akşener, der Vorsitzenden der Guten Partei, geführt. Sie könnten zum Stolperstein werden, denn Erdoğan und seine Minister schlachten den Konflikt zwischen beiden Parteien medial aus. 

Ein Wahlsieg für die Opposition erfordert ein hohes Maß an Mobilisierung, Einigkeit und Geschick. Dass Erdoğan keinesfalls abgeschlagen zurückliegt und gute Aussichten hat, das Rennen doch für sich zu entscheiden, hat viele Gründe.

 

 

Der amtierende Staatspräsident hat fast alle bisherigen Wahlen für sich entschieden und Schritt für Schritt ein auf sich zugeschnittenes autokratisches System etabliert. Er hat die staatlichen Institutionen kolonisiert, die Kontrolle über die Judikative an sich gerissen und das Amt des Staatspräsidenten mit einer großen Machtfülle ausgestattet, so dass er auch ohne die Zustimmung des Parlaments Minister und Bürokraten ernennen bzw. Institutionen und Ministerien umgestalten kann.  

Durch die Kontrolle des Obersten Wahlausschusses sowie der Regulierungsbehörde für Rundfunk und Fernsehen und Medien bestimmt er die öffentlichen Diskurse und dominiert die Wahlkampagne.



Zudem findet weder ein fairer Wahlkampf noch eine demokratische Auseinandersetzung um Inhalte statt. Eine unparteiische Wahlbeobachtung ist auch nicht gesichert: Mit der neuen Wahlgesetzgebung (Gesetz Nr. 7393) kann jeder Richter in das Wahlbeobachtungsgremium einziehen, dessen Auswahl durch das Los bestimmt wird. Es besteht die Gefahr, dass jüngere und unerfahrene Richter stärker unter politischen Druck geraten könnten.

Wird Erdoğan die Macht abgeben? 

Zumal die jüngeren Positionen in der Justiz fast ausschließlich mit AKP-Loyalisten besetzt sind. Im neuen Gesetz wird der Präsident nicht erwähnt, sodass der Präsident an die früheren Beschränkungen für Premierminister nicht gebunden ist und staatliche Mittel für seinen Wahlkampf frei verwenden kann. 

Yasar Aydin; Foto: privat
Dr. Yaşar Aydın ist Lehrbeauftragter an der Evangelischen Hochschule in Hamburg und Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Büroleiter einer Bundestagsabgeordnete. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Migration, Internationale Beziehungen, Geopolitik, deutsche Außenpolitik und die Türkei. Neben Fachbeiträgen zu Türkei und Migration schreibt er Kommentare für türkische und deutsche Zeitungen. Zuletzt erschien von ihm die Bücher "Türkei“ (2017) und "Graue Wölfe“ (2022).

Klarer sind dagegen die Mehrheitsverhältnisse in Deutschland, wo 1,5 Millionen zur Wahl aufgerufen sind.



Ein Wahlsieg für Erdoğan und seine Volksallianz kann hier als sicher gelten.



Das liegt zunächst am Amtsbonus – der Staatspräsident ist dank türkischer Medien im Alltag der Deutschtürken präsenter als seine Herausforderer.



Die Deutschtürken sehen die Modernisierung der Infrastruktur in der Türkei als Erdoğans Verdienst, bekommen aber von den Folgen der Wirtschaftsmisere nicht viel mit.  

Das mediale Bild von den Deutschtürken, die in einer demokratischen Gesellschaft und in Freiheit leben und einen Autokraten wählen, wird der Komplexität einer transnationalen Migrationsgesellschaft allerdings nicht gerecht. 

Ein Wahlsieg für die Opposition ist möglich – die Wahlen in der Türkei sind frei, auch wenn sie unfair verlaufen. Zuletzt haben die Kommunalwahlen von 2019 gezeigt, dass die Opposition gewinnen kann – auch dank der türkischen Zivilgesellschaft, die sich den Repressionen nicht gebeugt hat. 

Gleichwohl wird es Erdoğan und seinen Gefolgsleuten dann schwerfallen, die Macht abzugeben. Erdoğan drohen im Fall einer Wahlniederlage Exil oder Gefängnis, seinen Günstlingen Macht- und Ansehensverlust oder gar Marginalisierung. 

Die denkbare Abwahl Erdoğans würde einen politischen Neuanfang ermöglichen. Eine demokratische Transformation wird auf sich warten lassen, denn der konservativ-nationalistische Einfluss in der Bürokratie und Verwaltung wird kurz- und mittelfristig erhalten bleiben. Auch die Hoffnungen auf einen Durchbruch im EU-Türkei-Verhältnis könnten sich schnell eintrüben. 

Yasar Aydin

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