Starkes Bündnis zwischen Herrschern und Gelehrten

Als Ende November eine vergewaltigte Frau zu Gefängnis und Peitschenhieben verurteilt wurde, sah sich die saudische Führung massiver Kritik ausgesetzt. Wie realistisch sind Forderungen nach einer Reform?

Von Guido Steinberg

Mitte November 2007 verdoppelte ein Gericht in der saudi-arabischen Stadt Qatif das Strafmaß für eine Frau, die sich unzulässigerweise alleine mit einem nicht mit ihr verwandten Mann in einem Auto aufgehalten hatte. Statt 90 wurde sie zu 200 Peitschenhieben und zusätzlich sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Vorher hatte ihr Anwalt Revision gegen das Urteil eingelegt. Der Grund:

Die heute 20-jährige und ihr Begleiter waren 2006 von sieben Männern, die bereits zu Freiheitsstrafen zwischen fünf und sieben Jahren verurteilt wurden, mehrfach vergewaltigt worden.

In gewisser Weise hatte das "Mädchen von Qatif", wie sie mittlerweile in ganz Saudi-Arabien genannt wird, Glück. Einige saudi-arabische Juristen sind der Meinung, sie hätte auch wegen Unzucht (zina) zum Tode verurteilt werden können. Der Fall erregte weltweit großes öffentliches Aufsehen und verlieh Forderungen nach einer Reform der Justiz in Saudi-Arabien neuen Nachdruck.

Vorrang des religiösen Rechts

Tatsächlich entspricht der Fall weitgehend der gängigen Rechtsprechung in Saudi-Arabien. Frauen dürfen nicht mit Männern zusammenkommen, mit denen sie nicht verwandt sind und auf Ehebruch steht (zumindest für die beteiligten Frauen) die Todesstrafe.

In Saudi-Arabien hat das religiöse Recht, das von Religionsgelehrten (ulama) definiert wird, allgemeine Gültigkeit. Die gelehrten Richter an den religiösen Gerichtshöfen, die im Westen meist Sharia-Gerichte genannt werden, beanspruchen allgemeine Zuständigkeit. Zwar hat sich faktisch ein säkularer Rechtsbereich herausgebildet, doch ändert dies nicht am prinzipiellen Vorrang des religiösen Rechts.

Dies unterscheidet das saudi-arabische Rechts- und Justizsystem grundlegend von dem anderer arabischer Staaten, wo die Verfassung zwar meist eine Klausel enthält, dass die Sharia eine oder gar die Quelle der Gesetzgebung sei, diese Floskel jedoch in weitgehend säkular geprägten Rechtssystemen nur stark eingeschränkte Wirkung entfaltet.

Bündnis von Herrschern und Gelehrten

Die starke Stellung der Religionsgelehrten in der saudi-arabischen Justiz geht auf das Bündnis zwischen der Herrscherfamilie und den Gelehrten zurück. Im Jahr 1744/45 schloss der religiöse Reformer Muhammad Ibn Abdalwahhab (1703–1792) eine Allianz mit dem damaligen Herrscher Muhammad Ibn Saud (gest. 1765), das den saudi-arabischen Staat begründete.

Die Wahhabiya, wie die Reformbewegung Ibn Abdalwahhabs meist genannt wird, ist eine radikal puristische Bewegung, die nur diejenigen als Muslime anerkennt, die ihre Verhaltensvorschriften minutiös befolgen und ihre theologischen Ansichten vorbehaltlos übernehmen. Sie glauben, in Koran und Sunna ein detailgetreues Abbild der idealisierten Frühzeit der "frommen Altvorderen" (as-salaf as-salih), d.h. der ersten Muslime in Mekka und Medina, gefunden zu haben und versuchen unerbittlich, Gottes Gebote wortgetreu in die Tat umzusetzen.

Hierzu gehören nach wahhabitischer Auffassung auch das fünfmalige tägliche Gebet in der Moschee, das Verbot von Musik, Tabak und seidener Kleidung sowie die möglichst vollständige Verbannung der Frau aus dem öffentlichen Leben.

Es war Teil der Abmachung zwischen den Gründervätern des saudisch-wahhabitischen Staates, dass die Gelehrten über die religiöse und religionspolitische Sphäre im engeren Sinne hinaus auch das Erziehungswesen und die Justiz kontrollieren und die öffentliche Moral überwachen würden.

Bis weit ins 20. Jahrhundert gelang es den Gelehrten, diese Vorrechte gegen Versuche des saudischen Staates, seine Kontrollrechte auszuweiten, weitgehend zu verteidigen.

Das herkömmliche saudi-arabische Justizsystem war stark dezentralisiert. Ein religionsrechtlich ausgebildeter Richter entschied alle anstehenden Rechtsfragen in einem Ort. Faktisch unterstanden die Richter meist der Kontrolle durch die führenden wahhabitischen Gelehrten in Riad.

Nichtreligiöse Institutionen der Rechtsprechung

Erst im Verlauf der zunehmenden staatlichen Zentralisierung und Modernisierung des 20. Jahrhunderts wurde ein stärker funktional und hierarchisch differenziertes Justizsystem geschaffen. Kollegialgerichte, Rechtsmittelinstanzen und Urteile durch Mehrheitsbeschluss wurden eingeführt. Die Gelehrten wurden immer weiter in ein zunehmend bürokratisches Justizsystem eingebunden, das von ihren führenden Vertretern in Riad zentral kontrolliert wurde.

Die starke Zentralisierung spiegelte auch die Interessen der saudischen Herrscher wider, deren Einfluss auf die saudi-arabische Justiz traditionell stark ist.

Zusätzlich schuf die saudische Herrscherfamilie im Verlauf des 20. Jahrhunderts einen parallelen säkularen Justizsektor, der erstmals nicht von Gelehrten kontrolliert wurde. Wollte der saudische Staat ein Funktionieren des Handels in der 1925 eroberten Provinz Hijaz mit den Städten Mekka, Medina und vor allem Jidda gewährleisten, musste er überkommene Gepflogenheiten übernehmen. Schon 1926 wurde in Jidda der Handelsrat gegründet, eine Schiedskommission mit Justizvollmacht, die schon in osmanischer Zeit bestanden hatte.

Fünf Jahre später folgte ein Handelsgesetz. In den folgenden Jahrzehnten richteten die saudischen Herrscher zahlreiche nichtreligiöse Institutionen der Rechtsprechung ein. Dies war in erster Linie notwendig, weil die Gesetzgebung in Form von Verordnungen ausgeweitet wurde.

Zwar werden diese Verordnungen nicht Gesetze, sondern Dekrete genannt, weil nach wahhabitischer Auffassung Gott der alleinige Gesetzgeber ist, doch wurde hier faktisch ein Kompromiss zwischen wahhabitischer Ideologie und der Notwendigkeit, gesetzgeberisch tätig zu werden, gewählt.

Zumindest in der Theorie dürfen diese Verordnungen oder Dekrete nicht der Sharia zuwiderlaufen.

Striktes Befolgen der Rechtsauffassungen

In der religiösen Rechtsphäre dominiert in Saudi-Arabien heute wie vor 250 Jahren die hanbalitische Rechtsschule. Sie ist die kleinste der vier kanonischen sunnitischen Schulen und hat ihre traditionellen Hochburgen in Zentralarabien, Damaskus, Bagdad und Nablus. Ein wichtiges Ziel der Wahhabiya war es allerdings immer, das taqlid genannte strikte Befolgen der Rechtsauffassungen einer Rechtsschule zugunsten der eigenständigen Rechtsfindung (ijtihad) des Gelehrten zu vermeiden.

Anstatt sich der verbreiteten hanbalitischen Kompendien zu bedienen, sollte der Richter sein Urteil idealerweise auf Koran und Sunna, d.h. der Summe der Überlieferungen (hadith) über die Aussagen und Handlungen des Propheten Muhammad gründen. Hiermit orientierten sich Ibn Abdalwahhab und seine Nachfolger an den Vorstellungen des Begründers der Hanbaliya, Ahmad b. Hanbal (780/1–855), der selbst eher Hadith- als Rechtsgelehrter war und nicht beabsichtigt hatte, eine Rechtsschule zu begründen.

Faktisch jedoch orientierten und orientieren sich die Richter in Saudi-Arabien fast ausschließlich an den Lehrmeinungen der großen hanbalitischen Rechtskompendien.

In der Praxis waren es lediglich die führenden Gelehrten des Königreichs, die das Vorrecht auf eigenständige Rechtsfindung durchsetzen konnten. Von Riad aus versuchten sie, durchaus in Übereinstimmung mit staatlichen Interessen, die saudi-arabische Rechtsprechung zentral zu kontrollieren.

Kodifizierung des Rechts

Der saudische Staat jedoch bemühte sich, seine Kontrolle darüber hinaus auszuweiten, indem er das hanbalitische Recht zu kodifizieren suchte (d.h. festzuschreiben und systematisieren). Ein entsprechender Vorschlag Ibn Sauds (reg. 1901–1953) scheiterte am Widerstand der wahhabitischen Gelehrten. In vielen anderen Bereichen waren die Gelehrten gezwungen, sich dem Willen der saudischen Herrscher zu beugen und zeigten im Verlauf des 20. Jahrhunderts einen beträchtlichen Pragmatismus.

Eine Kodifizierung jedoch hätte das Prinzip der freien Entscheidungsfindung auf der Grundlage von Koran und Sunna stark beeinträchtigt. Die Gelehrten verdeutlichten, dass sie dieses Prinzip als einen Grundpfeiler der wahhabitischen Reform betrachteten und konnten sich so durchsetzen.

Die Rechtsprechung in Saudi-Arabien orientiert sich folgerichtig weiterhin strikt am religiösen Recht in der hanbalitischen Interpretation – und die ist in Fragen der öffentlichen Moral besonders strikt. Wäre das Mädchen von Qatif wegen widerrechtlichen Geschlechtsverkehrs (zina) verurteilt worden, wäre sie sogar Gefahr gelaufen, hingerichtet zu werden. Denn Unzucht (von Frauen) ist ein Delikt, das im Koran erwähnt wird (hadd, Pl. hudud) und das mit dem Tode bestraft werden kann. Das Gericht ließ den Vorwurf der Unzucht jedoch fallen.

Reform von Justiz und Recht

Der Ruf nach Reformen des Justiz- und Rechtsystems in Saudi-Arabien mag vor dem Hintergrund eines solchen Falls verständlich sein. Dennoch ist diese Forderung unrealistisch, da die Justiz und Recht im heutigen Saudi-Arabien nur in begrenztem Maße reformierbar sind. Im Oktober 2007 kündigte die Regierung tatsächlich weit reichende Justizreformen an, die jedoch vor allem die staatliche Kontrolle intensivieren und Rechtssicherheit im Wirtschaftssektor schaffen sollen.

Betroffen waren der säkulare Rechtsbereich und die Organisation des religiösen Justizsektors. Inhalte des religiösen Rechtsbereichs werden nicht angetastet. Eine Reform von Justiz und Recht in Saudi-Arabien, die Fälle wie den des Mädchens von Qatif unmöglich machen würde, müsste vielmehr die Vollmachten der Religionsgelehrten massiv beschneiden. Wahrscheinlich gelänge sie nur, indem man die Justiz weitgehend säkularisierte und den Geltungsbereich des islamischen Rechts auf ein Minimum reduzierte.

Dies jedoch ist auf der Grundlage der Allianz zwischen Herrschern und Gelehrten in Saudi-Arabien unmöglich. Solange die Legitimität des saudi-arabischen Staates auf dem hergebrachten Bündnis zwischen Herrschern und Gelehrten beruht, wird ein starker religiöser Rechtsbereich bestehen.

Guido Steinberg

© Qantara.de 2007

Guido Steinberg studierte Geschichte, Islamwissenschaft und Politikwissenschaft an den Universitäten Köln, Bonn, Damaskus und Berlin (FU). Von 2002–2005 arbeitete er als Referent im Bundeskanzleramt, heute arbeitet er u.a. für die renommierte Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

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