Der lange Weg zu einem modernen Familienbild

Professor Kenneth M. Cuno
"Ägypter verlassen sich immer noch auf Familie und Freunde, wenn es darum geht, geeignete Ehepartner zu finden“, sagt der amerikanische Historiker Kenneth M. Cuno (Bild: privat)

Der amerikanische Historiker Kenneth M. Cuno spricht über den Rückgang der Polygamie in Ägypten, Liebe und Partnerwahl und die Rolle der Reformdenker Muhammad Abduh und Qasim Amin bei der Entwicklung neuer Vorstellungen von Ehe und Familie.

Interview von Mohamad Alrabiuo

Herr Cuno, Sie schreiben, dass sich Ende des 19. Jahrhunderts die Vorstellungen von der Ehe in Ägypten verändert haben. Wie kam es dazu, und war dies auf den Einfluss europäischer Ideen zurückzuführen, oder gab es andere Gründe? 

Kenneth Cuno: Die Veränderungen waren nicht ausschließlich auf europäische Ideen zurückzuführen, aber sie spielten sicherlich eine wichtige Rolle. Entscheidend ist, was ägyptische Intellektuelle aus diesen Ideen gemacht haben. 

Die Verbindung eines bestimmten Familiensystems mit Fortschritt ("Zivilisation“) war ursprünglich eine europäische Idee. Europäer sahen in den Unterschieden zwischen ihrem und anderen Familiensystemen ein Zeichen der Überlegenheit. 

Ägyptische und osmanische Denker folgten dieser Logik und übernahmen selektiv europäische Ideen, um gesellschaftlichen Fortschritt zu erzielen. Sie rechtfertigten diese Ideen, wie die Bildung der Frauen, die Ablehnung der Polygamie und die Begrenzung von Scheidungen (für Männer, Anm. der Red.), indem sie sich auf islamische Quellen und die islamische Geschichte beriefen. So war beispielsweise Aischa bint Abi Bakr, die jüngste Frau des Propheten Mohammed, eine gebildete Frau. 

Gleichzeitig verbanden sie diese Vorstellungen mit einem Verständnis der Ehe als Gehorsam gegen Unterhaltspflicht, das wiederum aus der islamischen Rechtsprechung abgeleitet wurde. Daher bezeichne ich das moderne ägyptische Familienverständnis als eine Mischform und nicht als einen Fall von Verwestlichung im herkömmlichen Sinne. 

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde diese Ideologie zur treibenden Kraft des Wandels. Sie verbreitete sich über Printmedien, Filme und Lehrpläne. Vor dem Krieg waren politische und demographische Faktoren wichtiger. Die Familie der Khediven (Vizekönige) von Ägypten vor dem Ersten Weltkrieg lebte monogam und gab damit ein öffentliches Beispiel, dem mit der Zeit auch die übrige Oberschicht folgte.

Mit dem Ende der Sklaverei endete auch eine Form der Polygamie, was der Stellung der Frau insgesamt zugute kam. Mit der Verbreitung von höherer Bildung unter den Männern der Mittel- und Oberschicht heirateten diese Männer später, was zu mehr ehelichen Familienhaushalten führte. Aus Gründen, die noch nicht vollständig geklärt sind, stieg das Heiratsalter Ende des 19. und Anfang des 20 Jahrhundert. 

Cover of Kenneth M. Cuno's "Modernizing Marriage", published by Syracuse University Press
"Modernizing Marriage“ des amerikanischen Historikers Kenneth M. Cuno behandelt die Entwicklung von Ehe, Religion und Familie im Ägypten des 19. und 20. Jahrhunderts. (Quelle: Syracuse University Press)

Mehr Wohlstand, mehr Polygamie

Wie sehr Polygamie in arabischen Städten verbreitet war, ist umstritten. In Damaskus war sie im 18. Jahrhundert weder üblich noch wurde sie in nennenswertem Umfang praktiziert. Die Historikerin Margaret Meriwether zum Beispiel schreibt in ihrem Buch über Aleppo, dass Polygamie dort zu dieser Zeit unerwünscht war. Wie war das in Ägypten im 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts? 

Cuno: Wir haben keine umfassenden statistischen Daten über Polygamie in Ägypten vor der britischen Zeit (ab 1882). In den Volkszählungen von 1848 und 1868 wurden in Ägypten auch Frauen erfasst. Dabei wurde auch festgehalten, ob und mit wem eine Frau verheiratet war, aber nicht, ob Sklavinnen gleichzeitig Konkubinen waren. Für mich fallen Konkubinen unter das System der Polygamie.  

Die von mir untersuchten Volkszählungsregister der Dörfer belegen eine Korrelation zwischen Wohlstand und Polygamie. Die Patriarchen der großen Mehrfamilienhaushalte, die fast immer den größten Grundbesitz im Dorf besaßen, hatten oft mehrere Ehefrauen. 

Der Handel mit afrikanischen Sklaven erreichte in den 1860er Jahren seinen Höhepunkt. Wohlhabende Dorfbewohner besaßen in der Regel Sklaven. Es ist anzunehmen, dass in diesem Jahrzehnt das Konkubinat zunahm. 

Polygamie war in den herrschenden Familien üblich. Sie diente auch der Demonstration von Größe und verlieh den Herrschern Legitimität. Die Oberschicht orientierte sich an den Herrschern, sodass wir auch hier Polygynie vorfinden. 

Dies wird auch in der Studie der ägyptischen Wissenschaftlerin Nelly Hannas über das Shabandar von Kairo aus dem 17. Jahrhundert deutlich. Muhammad Afifi erwähnt in seiner Studie über die Kopten im 19. Jahrhundert, dass wohlhabende Kopten ebenso wie wohlhabende jüdische Männer Polygamie praktizierten. 

Der ägyptische Staatsmann und Intellektuelle Ali Pascha Mubarak (1824 - 1893) behauptete, die Polygamie sei von den Türken nach Ägypten gebracht worden. Er lag damit zwar falsch, aber auf diese Weise machte er deutlich, dass die Polygamie nicht Teil der ägyptischen Kultur war. 

Die Ergebnisse von Margaret Meriwether (The Kin Who Count: Family and Society in Ottoman Aleppo, 1770-1840) stimmen mit denen von Nelly Hanna darin überein, dass vor allem Frauen ungeachtet der Praxis unter den Herrschenden und der Oberschicht die Polygamie ablehnten. 

Viele Familien bestanden offenbar auf Regelungen im Ehevertrag, die den Mann daran hinderten, sich eine zweite Frau oder eine Konkubine zu nehmen. Meines Wissens ist es heute in gebildeten Kreisen Ägyptens durchaus üblich, dass der Mann bei der Eheschließung der Frau das Recht auf Scheidung überträgt (arab. Talaq-e-Tafweez). Faktisch kann sie damit die Scheidung einreichen (was nach islamischem Recht sonst nicht möglich gewesen wäre, Anm. der Red.)

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten etwa sechs Prozent der verheirateten Männer polygam, danach sank der Prozentsatz. Heutzutage gelten polygame Ehen als rückständig. Dies wird auch in zeitgenössischen Romanen und Filmen so dargestellt.  

Modernes Familienmanagement

Sie sprachen vom Aufkommen neuer Vorstellungen von der Familie in Ägypten. Wie sind diese entstanden und wie haben sie sich später auf Vorstellungen von Ehe und Familie ausgewirkt? 

Cuno: Die neuen Vorstellungen von Familie hatten ihren Ursprung in den Schriften von Modernisierern wie Rifāʿa al-Tahtāwī, Ali Mubarak und ihren osmanischen Zeitgenossen. Diese Ideen wurden später von Denkern wie Muhammad Abduh (1849-1905) und Qāsim Amīn (1863-1908) weiterentwickelt. 

Sie sahen die Aufgabe der ehelichen Familie darin, den Charakter junger Männer zu formen, die die Gesellschaft und die Nation voranbringen sollten. So wurde die Rolle der Frau als frühe Versorgerin und Erzieherin betont. In diesem Zusammenhang war auch der Zugang der Frauen zu Bildung wichtig, um sie auf ihre Rolle vorzubereiten.  

Mit Ausnahme von Qāsim Amīn konnte sich keiner dieser Männer vorstellen, dass Frauen durch ihre Bildung einmal ihren Lebensunterhalt verdienen könnten. Sie sahen in der Bildung der Frauen lediglich den Zweck, sie auf ihre häusliche Rolle vorzubereiten.

Rifāʿa al-Tahtawi plädierte für eine allgemeine Bildung für Mädchen und Jungen. Die Bildung der Mädchen sollte sich jedoch auf die Primarstufe beschränken. 

Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen in beliebten Zeitschriften Artikel zum Thema Haushaltsführung, die sich an Frauen richteten und die häuslichen Pflichten der verheirateten Frau weiter fassten. Dieser Diskurs war ein internationales Phänomen. Ähnliche Ratgeberartikel finden sich auch in indischen Zeitschriften aus der gleichen Zeit.  

Um die Jahrhundertwende gab es auch eine internationale Kampagne gegen Kinderheirat, in deren Folge 1923 in Ägypten ein Mindestheiratsalter festgelegt wurde. Wie bereits erwähnt, setzte sich das neue Familienbild erst nach dem Ersten Weltkrieg durch. 

Es verbreitete sich mit der fortschreitenden Entwicklung der Printmedien, des Films und später des Fernsehens sowie über die Lehrpläne der Schulen. Die Hochzeit von König Faruk und Farida im Jahr 1938, die ein öffentliches Ereignis war und die beiden als modernes romantisches Paar präsentierte, markierte den Endpunkt dieses Übergangs. Die Wochenzeitschrift Al-Musawar widmete der Hochzeit sogar eine Sonderausgabe. 

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Ein neues Verständnis von Ehe

In Ihrem Buch betonen Sie die Rolle des Reformers Muhammad Abduh und seines Schülers Qāsim Amīn bei der Formulierung neuer Vorstellungen von der Ehe. Wie kam es zu dieser Entwicklung? 

Cuno: Muhammad Abduh wuchs in einer polygamen Familie auf und nahm daraus offenbar die Überzeugung mit, dass sie für ein stabiles Familienleben schädlich sei. Rifāʿa at-Tahtāwī und andere rieten trotz Sure 4:3 im Koran, die Polygamie erlaubt, wenn alle Frauen gleich und gerecht behandelt werden, von der Mehrehe ab. Beide bezweifelten, dass Männer noch so tugendhaft seien wie die zur Zeit des Propheten Mohammed. Sie seien daher nicht mehr in der Lage, mehrere Frauen gerecht und gleich zu behandeln, wie es die Sure fordert. 

Muhammad Abduh ging noch weiter und legte Sure 4:129 ("Und ihr könnt zwischen den Frauen keine Gerechtigkeit üben, so sehr ihr es auch wünschen möget“) fast als ein Verbot der Polygamie aus. 

Er schlug vor, sie nur dann zuzulassen, wenn ein Mann einen Richter davon überzeugen kann, dass seine Frau keine Kinder gebären kann und er über die Mittel verfügt, um eine weitere Frau zu versorgen. Frauenrechtlerinnen hatten wiederholt erfolglos versucht, eine derartige Einschränkung der Polygamie in das ägyptische Personenstandsgesetz aufnehmen zu lassen. 

Ganze Generationen von Kommentatoren haben übersehen, dass es in Qāsim Amīns Buch "Die Befreiung der Frau“ (Tahrir Al-Mar`ah, erschienen 1899) hauptsächlich um Frauen in der Familie geht. Amin argumentiert, dass die Bildung von Frauen ein gesellschaftliches Gut sei, weil sie dadurch besser in der Lage seien, Kinder zu erziehen, den Haushalt zu führen und ihrem Mann eine bessere Partnerin zu sein.

Er schreibt auch, dass Frauen durch Bildung dazu befähigt werden, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, falls sie geschieden, verwitwet oder verlassen sind und keine Mittel mehr für sich und ihre Kinder haben.  

Er war der erste männliche Intellektuelle, der die Berufstätigkeit von Frauen befürwortete, allerdings nur, wenn es keinen männlichen Ernährer gab. Umstritten war seine Ansicht, dass die Bildung von Frauen unvollkommen sei, wenn sie nicht auch im öffentlichen Raum rechtlich, wirtschaftlich und erzieherisch tätig sein dürften. 

Er berief sich dabei auf jene Stimmen in der islamischen Rechtslehre (fiqh), nach denen Frauen in der Öffentlichkeit auftreten und sich mit unbedeckten Händen und Gesichtern unter nicht verwandte Männer mischen dürfen, ohne unkeusch zu sein. 

Die Kontroverse entzündete sich an der Bedeutung des Schleiers, der im Mittelpunkt der westlichen Kritik stand. Kritiker warfen Qāsim Amīn vor, lediglich westliche Vorwürfe aufzugreifen, aber tatsächlich führte er die Argumente früherer reformorientierter Intellektueller weiter. 

Auch Frauen schrieben über Ehe und Familie. Die ägyptische Frauenrechtlerin Malak Hifnī Nāsif, die unter dem Pseudonym "Bahithat al-Badiya“ schrieb, war vor ihrer Heirat Lehrerin. Die libanesische Romanautorin und Journalistin Zaynab Fawwaz trat für die Gleichheit von Frauen und Männern ein. 

Beide befürworteten die Idee der traditionellen Familie, waren aber der Meinung, dass Frauen eine Familie gründen und gleichzeitig berufstätig sein könnten. Ihre Ansichten waren ein Gegenentwurf zu den manchmal naiven Ansichten männlicher Intellektueller über Frauen. 

Aufstieg der romantischen Liebe

Sie weisen darauf hin, dass zur Zeit des Ersten Weltkriegs die romantische Liebe ein wichtiger Faktor bei der Wahl des Ehepartners geworden war. Hat sich diese Vorstellung von Liebe durchgesetzt? Spielen in einer Stadt wie Kairo andere Faktoren bei der Wahl der Ehefrau eine Rolle? 

Cuno: Das Thema Liebe findet man in volkstümlichen Erzählungen, die um die Jahrhundertwende veröffentlicht wurden. Natürlich ist Liebe auch ein großes Thema in Filmen und später in Seifenopern (arab. Musalsilat). Aber sie sind ebenso wenig ein Abbild der Wirklichkeit wie die Romane von Jane Austen. Im Gegenteil: Dramen entspringen der Realität gesellschaftlicher Konventionen und familiärer Erwartungen, die Liebesbeziehungen erschweren. 

Die Wissenschaft und meine persönlichen, nicht-wissenschaftlichen Beobachtungen deuten darauf hin, dass sich die Ägypter am Ende des 20. Jahrhunderts immer noch auf Familie und Freunde verlassen, wenn es darum geht, einen geeigneten Ehepartner zu finden. Die Familien bleiben daran beteiligt. 

Familien haben ein großes Interesse daran, dass ihre Kinder erfolgreich heiraten. Nicht nur wegen des Glücks ihrer Kinder, sondern auch wegen der weitreichenden finanziellen Folgen einer Scheidung. Familien sind an den Heiratsverhandlungen beteiligt, da mit der Eheschließung oft erhebliche Vermögenswerte übertragen werden. 

Deshalb waren und sind die Menschen so verärgert über das Phänomen der heimlichen "islamischen" Eheschließung (arab. nikāḥ), die nach Maßgabe der Scharia geschlossenen wird. Die Vorstellung, dass die Familie bei der Wahl des Ehepartners eines Kindes einbezogen werden sollte, ist nach wie vor weit verbreitet. Man geht davon aus, dass sich Liebe und Hingabe im Laufe der Beziehung entwickeln. 

Das Interview führte Mohamad Alrabiuo. 

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