Blind für die eigene Geschichte
Der 24. April 1915, der Tag, an dem die in Istanbul ansässige armenische Intelligenz und Geistlichen in Richtung syrischer Wüste deportiert wurden, gilt als der Beginn der unter der Führung der jungtürkischen Regierung gegen die armenische Bevölkerung des Osmanischen Reichs begangenen Gräueltaten. Schätzungen zufolge sollen bis zu 1,5 Millionen Menschen bei diesen "Todesmärschen" umgekommen sein.
Während die türkische Regierung nach wie vor die Bezeichnung "Genozid" strikt ablehnt und die Vertreibungen nicht als systematisch geplanten und vollzogenen Akt, sondern als Kollateralschäden inmitten der Wirren des Ersten Weltkriegs betrachtet, haben inzwischen über 20 Staaten den Völkermord offiziell anerkannt – darunter Frankreich, Italien, Polen und Russland. Die Leugnung des Völkermords steht unter anderem in der Schweiz und in Griechenland unter Strafe.
Die deutsche Regierung dagegen zeigt sich bei diesem Thema bislang diplomatisch zurückhaltend. Sie verzichtet darauf, den Ausdruck "Völkermord" zu benutzen und spricht vielmehr von "Vertreibung und Massaker". In einer diesbezüglichen Resolution aus dem Jahr 2005 ist lediglich die Rede von der "unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches".
Kritik an zu viel Passivität
Bei seinem Besuch in Armenien im Oktober 2014 hatte Außenminister Frank Walter Steinmeier erklärt, man solle die Bewertung der Ereignisse von 1915/16 Historikern überlassen. Außerdem sei das eine Angelegenheit vor allem zwischen den beiden betroffenen Ländern.
Jetzt, da der 100. Jahrestag der armenischen "Aghet" (Katastrophe) näher rückt, nimmt die Kritik an dieser passiven Haltung der Bundesregierung zu. Während der armenische Präsident Sersch Sarkissjan forderte, Deutschland solle sich mit dem Thema auseinandersetzen, kommt auch hierzulande vermehrt Kritik auf. Oppositionspolitiker und Historiker fordern, Deutschland solle sich mit der Frage beschäftigen, inwiefern das Deutsche Kaiserreich, damals Hauptverbündeter des Osmanischen Reichs, eine Mitschuld – oder zumindest eine Mitverantwortung – trage.
Die jüngste Kritik kam von Grünen-Chef Cem Özdemir. Bei seinem Besuch in der armenischen Hauptstadt Jerewan im März 2015, bei dem er auch das Völkermordmahnmal besuchte, drückte er sein Bedauern darüber aus, dass die deutsche Regierung noch immer eine unangemessene Sprache verwende, indem sie das Wort "Genozid" bewusst vermeide. Er forderte die Bundesregierung auf, sich mit der deutschen Beteiligung an den historischen Verbrechen auseinanderzusetzen, sich zur Mitschuld zu bekennen und zwischen der Türkei und Armenien eine Vermittlerfunktion zu übernehmen.
Die Mitverantwortung des einstigen Verbündeten
Kritik kommt auch von der Partei "Die Linke". So erklärte die Abgeordnete Ulla Jelpke bereits 2007, dass sich Deutschland seiner eigenen Verantwortung entziehe. Als Verbündeter des Osmanischen Reichs während des Ersten Weltkriegs habe das Deutsche Reich von den Massakern gewusst und teilweise mitgewirkt.
Einen wissenschaftlichen Beitrag zu dem Thema möchte der langjährige Türkei-Korrespondent der taz aus Istanbul, Jürgen Gottschlich, leisten. Im Februar 2015 erschien sein Buch "Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier". Gottschlich, der vor allem deutschsprachiges Archivmaterial gesichtet hatte, wirft darin ein Licht auf das bislang eher unbekannte Kapitel deutscher Diplomatiegeschichte.
"Nur wenigen Deutschen dürfte dieses Kapitel der deutschen Geschichte bekannt sein", so der Autor und Journalist während seiner Buchvorstellung in Berlin. "Für viele beginnt das deutsch-türkische Verhältnis mit den Arbeitsmigranten der 1960er Jahre. Dass damals das Deutsche Kaiserreich politisch und militärisch mitgemischt hat, und damit Beihilfe zum Völkermord geleistet habe, weiß kaum jemand."
Historische Vergangenheitsbewältigung, so Gottschlich, sei in Deutschland mit dem Holocaust abgehakt worden. Für ihn steht fest: Das Deutsche Kaiserreich stellte sich an die Seite des Osmanischen Reichs, um sich "neue Märkte und damit einen Platz an der Sonne zu erobern". Schnell habe es verstanden, dass es nicht nur um Deportation, sondern um Vernichtung gegangen sei.
Nicht mit der Regierung Erdoğan anecken
"Seit zehn Jahren wird auf deutscher Seite nichts aufgearbeitet", so Gottschlich. Bei den Gedenkveranstaltungen, zu der internationale Delegationen nach Jerewan reisen, wird Deutschland fehlen. Stattdessen findet im Berliner Dom ein Gottesdienst im Gedenken an die im Ersten Weltkrieg umgekommenen Armenier, Syrer und Pontos-Griechen statt, an dem Bundespräsident Gauck teilnehmen wird. Das zeugt von Feigheit, meint Gottschlich. Deutschland müsse "zugeben, dass eine deutsche Mitschuld existiert." Und: "Die wollen sich nicht mit der Regierung Erdoğan anlegen."
Dabei würde eine deutsche Auseinandersetzung mit dem Thema in der Türkei weitaus besser aufgenommen werden, als es noch vor zehn Jahren der Fall gewesen wäre. Zwar droht noch immer Strafverfolgung gemäß Paragraph 301 ("Verunglimpfung des Türkentums"), doch lockert sich allmählich die offizielle Geschichtsschreibung. Den literarischen Anfang machte 2004 das Buch "Oma" der Anwältin Fethiye Çetin. Eine autobiographische und exemplarische Familiengeschichte, über eine Familie, die vor ihren eigenen Kindern verheimlicht hat, dass sie armenischen Glaubens ist.
Seitdem erscheinen immer wieder Romane, die das von der offiziellen Geschichtsschreibung zurechtgeschnittenen Kapitel der türkischen Geschichte literarisch aufarbeiten. Der größte Ruck ging durch die türkische Gesellschaft zweifelsohne mit der Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink auf offener Straße in Istanbul 2007. Dass der Mord noch immer nicht aufgeklärt ist, sorgt in vielen Teilen der Gesellschaft für große Empörung.
Annäherung, keine Anerkennung
Politisch entspannte sich die Lage etwas durch die AKP, die sich auch in dieser Frage demonstrativ von vorherigen Regierungen absetzte, indem sie eine zaghafte politische Öffnung einläutete. 2009 unterzeichneten im Zuge der "Fußballdiplomatie" – einem Qualifikationsspiel für die Weltmeisterschaft in Bursa, bei dem die Teams der Armenier und der Türken nichts zu verlieren und nichts zu gewinnen hatten – der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu und sein armenischer Kollege Edward Nalbandjan zwei Protokolle zur gegenseitigen Anerkennung und Öffnung der Grenzen, der Aufnahme diplomatischer Beziehungen und dem Bau von Verkehrsverbindungen.
Dennoch ist die Regierung von einer Anerkennung nach wie vor weit entfernt. Das machten die Worte Erdoğans Mitte März deutlich. Es mache ihn "traurig", dass Papst Franziskus die Taten als "ersten Genozid des 20. Jahrhunderts" bezeichnete, so der Staatspräsident, der die Worte seines Amtsvorgängers Abdullah Gül wiederholte, die Archive stünden jedem offen und Historiker sollten sich mit dem Thema beschäftigen.
Eine Auseinandersetzung mit der Rolle Deutschlands und ein Bekenntnis zur Mitschuld, wie Gottschlich es neben Anderen fordert, würde es der Türkei deutlich erschweren, sich vor einer historischen Aufarbeitung zu drücken.
Doch solange das beiderseitige Interesse groß genug ist, das Thema auszuklammern, wird das nicht geschehen. Daran werden auch die Apelle der armenischen Gemeinde und des Zentralrats der Armenier vermutlich nichts ändern. So bleibt es bei der Feier zum hundertjährigen Gedenken vorerst bei einem gemeinsamen Gottesdienst.
Ceyda Nurtsch
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