Erdoğans Zauber lässt nach
Für Recep Tayyip Erdoğan war Politik schon immer eine Bühnenkunst. Der Präsident hat seine ersten Schritte in der Politik als Schauspieler gemacht, und noch heute ist er nirgendwo so in seinem Element wie auf einer Wahlkampfbühne. In der Türkei ist Erdoğans Rolle in dem Theaterstück "Maskomya" (Kurz für Mason, Komünist, Yahudi oder Freimaurer, Kommunist, Jude) heute weitgehend vergessen. Doch als der 22-jährige Erdoğan es 1976 mit einigen gleichgesinnten Studenten in Istanbul auf die Bühne brachte, füllten mehr als 2.000 Zuschauer den Saal.
In dem Stück beschworen die jungen Islamisten die Gefahr einer Verschwörung jüdischer Kapitalisten, kommunistischer Agitatoren und Freimaurer. Nach mehr als 20 Aufführungen am Bosporus tourte der junge Erdoğan mit seinen Freunden noch mehrere Wochen in einem Bus durch die Türkei. Ein Höhepunkt ihrer Tournee war ein Auftritt vor dem Millî Görüş-Führer Necmettin Erbakan, der den jungen Erdoğan tief prägte, bevor er schließlich mit ihm brach.
Die Liebe zum großen Auftritt ist Erdoğan ebenso geblieben wie die Vorstellung, dass hinter den Weltkulissen eine versteckte Hand die Strippen zieht. Welche Energie er noch immer auf der Bühne entfaltet, war vor den Kommunalwahlen zu sehen. Obwohl er selbst gar nicht zur Wahl stand, hielt er mehr als hundert Kundgebungen, bei denen er mit dem Mikro in der Hand über die Bühne tigerte, schrie, sang und von ungenannten Feinden raunte.
Inszenierte Bedrohungslage
Zwischendrin zeigte er bei seinen genau choreographierten Auftritten auf einer Leinwand Werbefilme von den Straßen, Kliniken und Universitäten, die seine Partei seit 2002 gebaut hat. Dazu ließ er Ausschnitte aus Reden seiner Rivalen zeigen, um sie dann als Feinde der Nation und Verräter am Islam zu beschimpfen. Selbst das Video des Moschee-Anschlags von Christchurch nutzte er in seiner Wahlkampfshow, um das Gefühl der Bedrohung anzuheizen.
Wie bei dem Theaterstück 1976 zog sich die Vorstellung durch den Wahlkampf, die Türkei werde bedroht von inneren und äußeren Feinden. Immer wieder beschwor Erdoğan die Gefahr durch geheime Mächte, die in Politik und Wirtschaft die Strippen ziehen und das Land zu spalten suchen. Egal ob der Preisanstieg bei Lebensmitteln, der Verfall der Währung oder die Gezi-Proteste von 2013 – Erdoğan sah hinter allem eine Verschwörung gegen die Türkei.
Viele Beobachter waren sich einig, dass die Türkei noch nie einen so harten, so polarisierenden Wahlkampf erlebt hat. Da ist es ein Hoffnungszeichen, dass Erdoğan und seine Partei am Wahlabend einige herbe Verluste hinnehmen mussten. Zwar erhielt die AKP im Bündnis mit der rechtsextremen MHP landesweit erneut eine knappe Mehrheit. Doch die beide größten Städte Istanbul und Ankara fielen an die Opposition aus der kemalistischen CHP und der rechten IYI-Partei.
Wahldebakel in Ankara und Istanbul
Während sich in der Hauptstadt schon am Abend abzeichnete, dass der CHP-Kandidat Mansur Yavaş die Wahl gewinnen würde, wurde die Auszählung in Istanbul zum Krimi. Die beiden Kandidaten näherten sich bis auf wenige tausend Stimmen an, und gegen Mitternacht reklamierte der AKP-Kandidat Binali Yıldırım den Sieg. Doch am folgenden Morgen verkündete die Wahlkommission, dass der CHP-Politiker Ekrem İmamoğlu mit 28.000 Stimmen in Führung liege.
Der Verlust der beiden Metropolen ist für Erdoğan und seine Partei eine wichtige symbolische Niederlage. Ankara ist als Hauptstadt das politische Zentrum der Türkei, die 15-Millionen-Metropole Istanbul ist ihr kulturelles und wirtschaftliches Herz. Hier wuchs Erdoğan auf, und hier feierte er 1994 mit der Wahl zum Oberbürgermeister erste Erfolge. Der AKP-Wahlkampfslogan "Istanbul ist für uns eine Liebesgeschichte" war nicht nur eine leere Phrase.
Zugleich bedeutet die Niederlage in Istanbul und Ankara, dass die AKP die Kontrolle über wichtige Posten und Ressourcen verliert. Für die Partei sind die Städte die Basis ihrer Macht. Die Kontrolle der Rathäuser verschafft ihr wichtige Vorteile im Wahlkampf und erlaubt ihr, ihre Anhänger mit Ämtern und Aufträgen zu versorgen. Eine ganze Klasse von Bauunternehmern ist dank lukrativer Aufträge bei Infrastrukturprojekten der AKP zu Reichtum gelangt.
Der Verlust von Istanbul und Ankara zeigt, dass sich viele Türken angesichts der Wirtschaftskrise nicht länger von Erdoğans Gerede vom Kampf ums „nationale Überleben“ blenden lassen. Auch die Erinnerung an vergangene Erfolge der AKP reicht nicht mehr. In einer Zeit, da die Türkei in die Rezession gerutscht ist, die Lira Kapriolen schlägt und selbst die Preise für Zwiebeln und Tomaten durch die Decke gehen, wollen die Wähler konkrete Lösungen.
Der entzauberte Präsident
Zwar hat Erdoğan mit seinen Auftritten gezeigt, dass er noch immer der unbestrittene Meister des Wahlkampfs ist, doch sein Zauber lässt nach. Bei seinen Auftritten ist regelmäßig zu beobachten, wie die ersten Zuschauer schon nach wenigen Minuten den Platz verlassen. Seine Reden gleichen sich in Inhalt und Inszenierung, dennoch werden sie alle in Gänze im Fernsehen übertragen – bis zu acht Mal am Tag. Da kann schon mal Ermüdung aufkommen.
Auch seine Strategie, das Thema Wirtschaft auszuklammern, hat sich nicht bewährt. Umfragen zeigten, dass die steigende Arbeitslosigkeit, die hohen Lebenshaltungskosten und der Verfall der Lira die größten Sorgen der Türken sind. Doch als die Opposition diese Themen ansprach, hielt Erdoğan ihr vor, Wirtschaftspolitik sei nicht Sache der Kommunen. Die Ergebnisse haben nun gezeigt, dass die Wähler auch bei Kommunalwahlen Lösungen für die Wirtschaft erwarten.
In der Wahlnacht hat Erdoğan denn auch versprochen, die vier Jahre bis zu den nächsten Wahlen 2023 für wirtschaftliche Reformen zu nutzen. Dass er sich nun wirklich auf Sachpolitik konzentriert und zum Reformkurs früherer Jahre zurückkehrt, ist aber zweifelhaft. Zu sehr braucht er die Polarisierung und das Gefühl der Bedrohung, um die Reihen geschlossen zu halten – und zu sehr liebt er womöglich auch den Thrill des Wahlkampfs und den Auftritt auf der Bühne.
Ulrich von Schwerin
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