Es droht eine bleierne Zeit
Eine "Neue Türkei" hat Recep Tayyip Erdoğan für die Zeit nach den Wahlen versprochen, doch steht nach seinem Sieg zu befürchten, dass diese "Neue Türkei" der alten bedrückend ähnlich sehen wird. Es ist ein Land, in dem Studenten inhaftiert werden, weil sie gegen die Kriegspolitik der Regierung protestiert haben. Ein Land, in dem Wissenschaftler entlassen werden, weil sie eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts gefordert haben. Ein Land, in dem Journalisten mit Artikeln über den verdächtigen Reichtum der Herrscherfamilie Gefängnis riskieren, wo bereits tausende Andere unter vagen Terrorvorwürfen sitzen, die nicht einmal die Ankläger zu überzeugen vermögen.
Es ist ein Land, in dem die Medien fast vollständig auf Regierungslinie sind, sodass kaum ein Journalist mehr zu widersprechen wagt, wenn der Präsident eine Verschwörung ausländischer Mächte für den Verfall der heimischen Währung verantwortlich macht. Alle Medien sind so eingeschüchtert, dass sie es auch kommentarlos schlucken, wenn der Staatschef erst Neuwahlen kategorisch ausschließt, kurz darauf aber doch welche ausruft. Oder wenn Erdoğan über Jahre Koalitionen zum Grundübel der Politik erklärt, sie kurz vor den Wahlen aber doch in Erwägung zieht.
Vor den Wahlen schien es, als könnte die Opposition dem türkischen Langzeitherrscher erstmals wirklich in Bedrängnis bringen. Mit Muharrem İnce hatte die frühere Staatspartei CHP endlich einen Kandidaten, der es auf der großen Bühne rhetorisch mit dem Volkstribun Erdoğan aufnehmen konnte. Mit seiner hemdsärmeligen Art, seiner volksnahen Sprache und seinem energischen Auftreten begeisterte İnce die Massen und zog auf den letzten Etappen seiner stringent organisierten Wahlkampftour in Izmir, Ankara und Istanbul Millionen Menschen an.
Opposition im medialen Abseits
Doch im Staatsfernsehen war von seiner riesigen Abschlusskundgebung in Istanbul nichts zu sehen. Während jeder Auftritt Erdoğans in voller Länge übertragen wurde, zeigten die Fernsehsender Ince meist nur in Ausschnitten, während die Nationalistin Meral Akşener fast vollständig ignoriert wurde. Selahattin Demirtaş von der linken Kurdenpartei HDP war zwar zur Wahl zugelassen worden, konnte aber nicht öffentlich auftreten, da er seit November 2016 unter dem Vorwurf der PKK-Mitgliedschaft in Haft sitzt. Auch hunderte weitere HDP-Politiker sind inhaftiert.
Die Wahl fand unter dem Ausnahmezustand statt, der nach dem gescheiterten Militärputsch von Juli 2016 verhängt worden war, sodass im Wahlkampf wichtige Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit eingeschränkt waren. Kurz vor der Wahl beschloss die Regierung zudem noch ein neues Wahlgesetz, das ihr erlaubte, aus Sicherheitsgründen Wahlurnen zu verlegen. Vor allem HDP-Hochburgen waren betroffen. Für ihren Wahlkampf nutzte die regierende AKP schamlos alle Mittel des Staats – für Erdoğan sind Partei, Regierung und Staat längst eins.
Faire Bedingungen im Wahlkampf herrschten also keineswegs, doch schien beim Anblick der enthusiastischen Kundgebungen von CHP und HDP ein Wechsel möglich. So groß die Hoffnung, so groß ist nun die Ernüchterung: Am Ende gewann Erdoğan die Präsidentenwahl klar in der ersten Runde und sicherte sich auch eine erneute Mehrheit im Parlament. Zwar gelangte die HDP erneut in die Nationalversammlung, doch konnte sich die Opposition insgesamt kaum verbessern. Die Prozentsätze blieben fast gleich, die Gesellschaft scheint in Lagern erstarrt.
Drohendes Ein-Mann-Regime
Mit seinem Wahlsieg hat Erdoğan seine Macht auf Jahre hinaus gefestigt, zumal nun das Präsidialsystem in Kraft tritt, das bei einem umstrittenen Referendum im April 2017 knapp gebilligt worden war. Es besteht wenig Grund zur Annahme, dass Erdoğan seine neuen Befugnisse nicht nutzen wird, um seinen repressiven Kurs fortzusetzen. Die Opposition warnt, die Türkei drohe damit endgültig zum Ein-Mann-Regime zu werden – hilflos der Willkür eines beratungsresistenten alten Mannes ausgeliefert, der allenfalls noch seiner Familie traut.
Tatsächlich erscheint die Türkei auf dem Weg, zu einer jener Autokratien wie Aserbaidschan, Usbekistan oder Weißrussland zu werden, die Erdoğan am Wahlabend noch vor Auszählung aller Stimmen gratulierten. Doch noch ist die Türkei keine Diktatur. Trotz all seiner Unzulänglichkeiten hat der Wahlkampf gezeigt, wie lebendig der politische Wettbewerb in der Türkei noch ist. Und auch wenn es am Wahltag zahlreiche Berichte über Unregelmäßigkeiten im kurdischen Südosten gab, besteht doch kein Grund, ernsthaft am Wahlergebnis zu zweifeln.
Politik der kemalistischen Eliten nicht vergessen
So wenig die Türkei eine Diktatur ist, so wenig können alle AKP-Anhänger Feinde als Demokratie gelten. Viele konservative Muslime wählen die AKP, weil sie ihnen nach Jahrzehnten der Missachtung durch die elitäre säkulare CHP Respekt und Wohlstand gebracht hat. Sie haben den kemalistischen Eliten nicht vergessen, dass sie ihren Töchtern den Zugang zur höheren Bildung verwehrt haben, weil sie Kopftuch trugen. Sie haben auch nicht vergessen, wie arm und schwach entwickelt weite Teile Anatoliens vor der Regierungsübernahme der AKP waren.
Im Wahlkampf klang Erdoğan wie ein stolzer Bauunternehmer, wenn er all die Brücken, Tunnel und Flughäfen aufzählte, die seine Regierung seit 2002 gebaut hat, und von dem Opernhaus, dem Volkspark und dem riesigen Schifffahrtskanal schwärmte, die er bei seiner Wiederwahl in Istanbul errichten werde. Doch für seine Anhänger sind die Großprojekte ein Gewinn an Lebensqualität und sichtbares Zeichen des Fortschritts und der neuen Stärke des Landes, das heute tatsächlich in einigen Bereichen wie der Luftfahrt in der oberen Liga mitspielt.
Nun kann dieser Gewinn an Wohlstand schwerlich die Einschränkung der Bürgerrechte, die Aushöhlung der Demokratie und die Verfolgung der Opposition aufwiegen, die das Land zuletzt erlebt hat. Vor allem aber muss klar sein, dass auf Dauer keine Entwicklung möglich ist, wenn keine Rechtssicherheit herrscht und Justiz, Presse und Opposition nicht in der Lage sind, Missstände anzuprangern, Korrekturen vorzuschlagen und Rechtsverstöße zu ahnden. Wollen die AKP-Anhänger nicht ihren Wohlstand riskieren, müssen sie selbst dafür sorgen.
Ulrich von Schwerin
© Qantara.de 2018