Die Verschwundenen
Esraa ist weg. Seit 20 Tagen. Am Abend des 1. Juni war sie mit zwei Freunden zum Essen verabredet. In Maadi, einem Vorort von Kairo, traf sich die 23-Jährige mit Sohaib Saad und Amr Mohamed. Doch von dem Abendessen sind die drei Studenten nicht zurückgekehrt. "Die Handy-Ortung hat ergeben, dass sie in der Polizeistation in Maadi waren", sagt Esraas Vater Mahfouz el-Taweel, "aber die Behörden haben das geleugnet." Dann war das Handy aus. Es folgte - nichts. Keine Nachricht, kein Haftbefehl, keine Informationen.
Binnen zwei Monaten sind 163 Ägypter "zwangsweise verschleppt" worden. Diese Zahl veröffentlichte die ägyptische Organisation "Freedom for the Brave" vor wenigen Wochen. Einige der Verschwundenen tauchen in Gefängnissen wieder auf, wo sie ohne Anklage festgehalten werden. Andere werden tot an einem Feldweg aufgefunden. Und von vielen fehlt noch immer jede Spur. "Die Anzahl der Verschwundenen ist in den vergangenen Wochen rasant angestiegen", sagt Mohamed Abdel Salam, der bei einer ägyptischen NRO arbeitet. "Und sowohl das Innenministerium als auch das Militär leugnen die Entführungen einfach."
Keine politische Aktivistin
Esraa el-Taweel studierte in Kairo Soziologie und war freiberufliche Fotojournalistin. Ihre Freunde beschreiben sie als fröhliche junge Frau, ein bisschen naiv, immer humorvoll. In den sozialen Netzwerken ist sie bekannt, auch in der Offline-Welt hat sie viele Freunde. Ihre liebste Gefährtin aber ist ihre Katze Woody. "Esraa hat sie sogar mitgenommen zur Pilgerfahrt nach Mekka", erzählt eine Freundin. Esraa führte ein ganz normales Leben in Kairo. Fast normal, denn bis vor kurzem saß sie im Rollstuhl. Im Januar letzten Jahres wurde sie angeschossen, als sie während der Proteste zum Jahrestag der Revolution von 2011 fotografierte. Inzwischen läuft sie auf Krücken. "Welche Gefahr stellt ein behindertes junges Mädchen dar?", fragt Esraas Mutter verzweifelt auf Facebook. "Sie ist keine politische Aktivistin, sondern Amateur-Fotografin."
Menschenrechtsorganisationen bestätigen: Verhaftungen und Verurteilungen ohne Gerichtsverfahren sind in Ägypten unter Präsident Abdel Fattah al-Sisi an der Tagesordnung. Längst nicht alle Verschollenen sind Anhänger der Muslimbrüder oder der säkularen, regierungskritischen "Bewegung des 6. April". Sarah Whitson von Human Rights Watch sagt: "Manche sind Aktivisten, manche halten sich nur in der Nähe von Demonstrationen auf, und manche werden willkürlich mitgenommen, so wie Esraa und ihre Freunde." Und fügt hinzu: "Das sind nicht einige korrupte Polizisten - das hat System."
Wochen der Ungewissheit und Angst
Der Vater Mahfouz el-Taweel kommt fast um vor Sorge um Esraa, aber auch um seine Frau und die anderen beiden Töchter. Er ist beruflich in Saudi-Arabien und traut sich nicht, nach Ägypten zu fliegen - aus Angst, selbst verhaftet zu werden. "Dann könnte ich für Esraa gar nichts mehr tun, meine Familie wäre ganz alleine", sagt er. Wochenlang warten sie auf eine Nachricht. Dann, 16 Tage nach ihrem Verschwinden, kommt das Gerücht auf, Esraa sei im Al-Qanater-Gefängnis gesehen worden, dem berüchtigten Frauengefängnis der ägyptischen Hauptstadt.
In der Nacht vom 17. auf den 18. Juni stürmen bewaffnete Polizeieinheiten das Haus der Familie el-Taweel in Kairo. "Sie haben Esraas Laptop und vier weitere Laptops mitgenommen", berichtet der Familienvater mit bebender Stimme. Der Anwalt der Familie sei gekommen, habe nach einem Durchsuchungsbefehl gefragt und die Polizisten aufgefordert zu unterschreiben, dass sie die Geräte mitnähmen. Sie lachen ihn aus und drängen ihn zur Seite, die Gewehre im Anschlag. Am nächsten Tag veröffentlichen regierungsnahe Medien, auf Esraas Laptop habe man Hinweise gefunden, dass sie "ausländischen Kräften" strategisch wichtige Informationen und Fotos geschickt habe. "Das ist lächerlich", sagt ihr Vater. "Das ist alles eine große Lüge." Seine Stimme überschlägt sich vor Aufregung.
Einen Tag später darf Esraas Mutter sie im Gefängnis besuchen - nach 18 Tagen des Bangens und der Unsicherheit, ob die Tochter überhaupt noch lebt. 15 Minuten dürfen sie miteinander sprechen. "Ich habe solche Angst um meine Tochter", sagt ihr Vater leise. Dann fängt er an zu weinen. "Ich habe Angst, dass sie sie foltern. Dass sie gezwungen wird, irgendwelche Geständnisse abzulegen. Vielleicht ist das ja schon geschehen, ich weiß es nicht."
Mahfouz el-Taweel geht es wie so vielen Ägyptern, deren Angehörige verschwunden sind: Er fühlt sich ohnmächtig. Genau wie der Aktivist Mohamed Abdel Salam hofft er auf Unterstützung aus Europa. Doch Europa schweigt.
"Die EU ist enttäuschend zurückhaltend, was die massiven Menschenrechtsverletzungen in Ägypten angeht", sagt Nicole Lambert vom Euro-Mediterranean Human Rights Network. Stattdessen rolle Deutschland "den roten Teppich" für al-Sisi aus, und auch Großbritannien plane, den Präsidenten bald zu empfangen.
"Wir wissen nicht, wie es weitergehen soll", sagt Esraas Vater mit gebrochener Stimme. "Es ist ein Albtraum für uns."
Elisa Rheinheimer-Chabbi
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