Jude, Israeli, Zionist
Ein plüschig gedämpfter Salon in einem Frankfurter Luxushotel. Das Bahnhofsviertel glänzt vor Nässe, in der Lobby sammeln sich Gäste einer muslimischen Hochzeit: Männer mit Undercut, Frauen mit Kopftuch. Der Politikwissenschaftler David Ranan tritt ein. Begrüßung, dann, noch im Stehen, ein unterdrückter Wutanfall: "Haben Sie den Missbrauch meines Buches in der Bild-Zeitung gesehen?"
Ranans Buch "Muslimischer Antisemitismus" ist gerade im Dietz-Verlag erschienen und enthält Auszüge aus Interviews, die er über dreieinhalb Jahre mit mehr als 70 Muslimen in Deutschland und England, vor allem Akademikern, über ihre Einstellungen zu Juden geführt hat.
Es enthält noch vieles andere, aber die Bild, die sich mit einer Kampagne zum muslimischen Antisemitismus zum Wortführer für viele beunruhigte Deutsche macht, präsentierte unter dem Titel "Wie Muslime in Deutschland über Juden denken" nur die bizarrsten Zitate: Über Boykotte von Aldi und Coca-Cola, weil sie angeblich Juden gehören, über den Einfluss Israels auf deutsche Medien, über israelischen Organhandel mit palästinensischen Körperteilen.
Ranan ist ein Mann deutlicher, manchmal bitterböser Worte
Nun muss man sagen, dass Ranan, dessen Mutter 1933 vor den Nazis floh, der 1946 in Tel Aviv geboren wurde und heute Fellow am Berliner Institut für Antisemitismusforschung ist, über die Neigung mancher Interviewpartner zu Verschwörungstheorien selbst einigermaßen überrascht war.
Nur ist der Tenor der Bild das exakte Gegenteil seiner Forschungsrichtung: Sein Buch ist gerade keine repräsentative Umfrage über "die" Muslime in Deutschland, sondern der Versuch, Meinungen, Gefühle vielleicht auch: Rationalisierungsversuche zu begreifen:
"Die Behauptung, dass es unter Muslimen viel mehr Antisemitismus gibt als unter Nicht-Muslimen, kam mir damals schon merkwürdig und erklärungsbedürftig vor." Darum bei den Interviews die Beschränkung auf meist akademisch gebildete Muslime, die schon länger im Westen leben oder hier geboren sind.
Er führte offene, vertrauensvolle Gespräche, entsprechend verheerend ist der Bild-Bericht: "Viele Interviewpartner werden jetzt sagen: Der Mistkerl kam und mimte Freundschaft, und dann kriegen wir ein Messer in die Rippen."
Ranan, der bereits ein Buch über israelische Soldaten geschrieben hat, ist, das dürfte spätestens hier klar werden, ein Mann deutlicher, manchmal bitterböser Worte. Aber es ist eine Polemik im Dienst der Vernunft.
Dass ein jüdisches Mädchen in Berlin beschimpft und bedroht wurde, hält er für entsetzlich, aber ist dies wirklich Ausdruck einer Welle islamischen Antisemitismus? "Die meisten Juden haben kein Problem auf der Straße, sie werden auch nicht als Juden erkannt", sagt Ranan, er selbst leide auf deutschen Straßen jedenfalls nicht unter Anfeindungen, vermute aber, dass auch "jede kopftuchtragende Muslima" schief angesehen werde: "Brauchen wir also einen Bundesbeauftragten gegen Antisemitismus oder vielleicht gegen Ausländerhass?"
Verordnete Gedenkstätten-Besuche für muslimische Schüler? Bestenfalls eine "Schockbehandlung", kaum nachhaltig.
Stattdessen wünsche er sich Lehrer, die über Mobbing aufklären, Mobbing an Schulen und in der Gesellschaft, die Anfänge der Ausgrenzung, die "kleinen Schweinereien", wie er es nennt, die damals, Anfang der Dreißigerjahre, seinen gebildeten, großbürgerlichen Großeltern mit Dienstboten und Opernabonnement das Leben in Frankfurt so unerträglich machten, dass sie nach Palästina flohen, ehe noch jemand etwas vom Holocaust ahnen konnte. Sein Vater kam mit seinen Eltern aus Berlin nach Palästina.
Ranan erinnert sich an ein Foto des damals 24-Jährigen am Strand von Tel Aviv, in der Ferne die arabische Stadt Jaffa und ein Kamel: "Mein Vater trug Anzug und Krawatte. Er wollte immer Europäer sein. Er hat Berlin ungeheuer vermisst."
Palästina, das heilige, geschundene Land, ist für Ranans Gesprächspartner der Nullpunkt und der Schmerzpunkt allen Nachdenkens über die Juden. Über den Koran, der wie die Bibel judenfeindliche Passagen enthält, verlieren sie hingegen nur zerstreute Worte. Ihre Ansichten sind meist Importe nahöstlicher Verhältnisse. Diese aber, darauf legt Ranan Wert, sind etwas völlig anderes als die europäische Tradition jahrhundertelanger, mal religiös, mal wirtschaftlich, mal rassisch begründeter Judenfeindschaft, die ihren Anfang nahm mit dem Hass auf das Volk, das Christus ans Kreuz schlug, und mit der Schoah ihren Höhepunkt erreichte.
Bis zum Aufstieg des Zionismus und der jüdischen Einwanderung waren die Juden im arabischen Raum eine unbedeutende, kaum bedrohliche Gruppe neben anderen Minderheiten. Gewiss, der Siegeszug des Faschismus in Europa hatte auch die arabische Welt fasziniert und Bewegungen wie die Baath-Partei inspiriert. Intellektuelle wie der Ägypter Salama Musa verfolgten sogar Eugenik-Konzepte und die Überlegenheit einer "pharaonischen Rasse".
Doch für die meisten arabischen Bewegungen, selbst für die Muslimbrüder widersprach trotz programmatischem Judenhass die Idee einer überlegenen Rasse dem universellen Anspruch des Islam, in dem alle Muslime gleich sind.
Das Berliner Leibniz-Zentrum Moderner Orient hat eine Reihe von Schriften herausgegeben, die mit diesen und anderen Beispielen belegen, wie sehr der Eindruck einer genuinen "Affinität der Araber" zur nationalsozialistischen Ideologie (Peter Wien, René Wildangel in "Blind für die Geschichte?") irreführend, ja, bösartig ist.
Eine der führenden ägyptischen Zeitungen, Al-Hilal, beschrieb Anfang der Dreißigerjahre das Leid der Juden Europas und gestand ihnen nach Jahrhunderten der Unterdrückung einen besonderen Platz unter den "von der Geschichte verfolgten Völker" zu. Ranan: Hass auf israelische Besatzer entspricht einer realen Ohnmachtserfahrung
Gewiss, ägyptische Denker lasen Oswald Spengler, weil auch ihr Land vor einer krisenhaften Zeitenwende stand, aber für Intellektuelle wie Mohamed Hussein Haikal stellten die faschistischen Gewaltregime keinen Ausweg aus dem Niedergang dar, sondern einen Beweis für die zerstörerische Kraft der westlichen Moderne. Für sie, die Vertreter eines friedlichen Humanismus nahöstlicher Prägung, war der Faschismus unannehmbar.
Verschiedene, für die Araber meist verlorene Kriege und das Scheitern des israelisch-arabischen Friedensprozesses verwandelten dieses Verhältnis in eine politische Feindschaft, in der gelogen und diffamiert wird - wie in jedem Krieg. "Christlicher Judenhass basierte nicht auf einem realen Problem", sagt Ranan: "Dagegen haben die Muslime im Nahen Osten einen realen, nicht gelösten territorialen Konflikt mit den Juden, seit die zionistische Bewegung Erfolg hatte."
Antisemitismus, so wie Ranan ihn in Anlehnung an den britischen Philosophen Brian Klug begreift, beschreibt die "Feindschaft gegen Juden als Juden", also als allmächtige, weltweit vernetzte und einflussreiche Fantasiegeschöpfe. Die Feindschaft gegen Juden, weil sie vermeintlich die Börse, das Weiße Haus und Coca-Cola besitzen, wäre damit ein antisemitisches Vorurteil.
Aber der Hass auf die israelischen Besatzer - auf jeden Fall seitens eines Arabers - entspricht einer realen Ohnmachtserfahrung. Ranan geht noch weiter: Wenn auf Palästina-Demonstrationen junge Araber ein Schild mit der Aufschrift "Kindermörder Israel" tragen, sei dies in aller Regel keine Anspielung auf die Ritualmord-Lüge des europäische Mittelalters ("Die kennen die meisten gar nicht"), sondern auf israelische Angriffe auf die besetzten Gebiete.
Selbst judenfeindliche Plakate meinten in der Regel nicht Juden, sondern Israelis, genauer: die israelische Politik. Die Unterscheidung zwischen "Jude", "Israeli" und "Zionist" wäre nach Ranan eines der wichtigsten Themen für deutsche Lehrpläne. Weitere Vorschläge: mehr Integration. Und: weniger Aufregung.
Denn wenn die Bild-Zeitung - und mit ihr allerlei rechte Stimmen - von der Politik scheinheilig fordert, sie solle klarmachen, "dass der Antisemitismus der islamischen Welt sich hier nicht einnisten kann", dann stellt sie die Verhältnisse auf den Kopf. Durchaus heiter erzählt Ranan, dass er von manchen Deutschen schon Schlimmeres als nur Aufrufe zum Boykott von Coca-Cola gehört habe.
Die "Perfidie" der deutschen Debatte liegt für ihn darin, "dass die Deutschen sich freuen, wenn man ihnen zeigt, dass die Muslime mit ihrem Antisemitismus schlimmer sind", es sei "eine komische Art des Persilscheins".
So entlastet sich Deutschland vom Schock eines Rechtsrucks, der seinen Antisemitismus inzwischen schamlos offen zeigen kann. Die Konzentration auf die vermeintliche islamische Gefahr enthebt eine ratlose deutsche Gesellschaft der Auseinandersetzung mit ihren eigenen antisemitischen Wurzeln - und ihren Kontinuitäten.
Sonja Zekri
©Süddeutsche Zeitung 2018