Wir sind auch wer!
Bei einem ägyptisch-deutschen Workshop in Kairo sollte es um die interkulturellen Aspekte in Kinder- und Jugendbüchern gehen. Diskutiert wurde aber vor allem eines: Die Krise der ägyptischen Kinderliteratur. Aus Kairo informiert Jürgen Stryjak.
Wer über die gerade zu Ende gegangene Kairoer Buchmesse lief, hätte meinen können, Ägypten sei ein Paradies für Kinderliteratur. Dutzende Stände stellten große Mengen Kinderbücher aus. In den Einkaufstüten der Besucher befanden sich - neben religiöser Literatur und Fachbüchern - vor allem auch Titel für die Kleinen.
Mangelware Kinderliteratur
Aber der Eindruck täuscht. Zu den Büchern, die die Leute für ihren Nachwuchs kauften, gehörten überwiegend didaktische Titel für die Allerjüngsten: Bücher zum spielerischen Schreiben und Lesen lernen, Malhefte, Englischkurse usw. Wenige Titel boten wirkliche Kindergeschichten, Erzählungen oder Romane. Bücher für ältere Kinder sowie Teenager seien in der Bücherwelt des Landes gar völlig unterrepräsentiert, klagte die ägyptische Presse auch in diesem Jahr.
So geriet der Workshop deutscher und ägyptischer Kinderbuch-Fachleute über weite Strecken zu einer eher deprimierenden Bestandsaufnahme der arabischen Kinderliteratur.
Einerseits mag das daran gelegen haben, dass die ägyptischen Teilnehmer und Zuhörer in der Mehrheit waren. Andererseits lautete das interkulturelle Motto der Veranstaltung "Ich zeig Dir meine Welt", und dazu muss erst einmal ermittelt werden, welche Bücher geeignet erscheinen, dem anderen die jeweils eigene Welt nahe zu bringen. Die Anzahl der Neuerscheinungen auf dem ägyptischen Kinderbuchmarkt, so Sayeda Hamid, Dozentin für Kinderbuchliteratur an der Helwan University, erreicht pro Jahr lediglich eine zweistellige Größe.
Oase kindlicher Kreativität
Der ganztägige Workshop, ausgerichtet vom Goethe-Institut Kairo/Alexandria, fand in der Mubarak Public Library statt - einer wundervollen Kulisse für solch eine Veranstaltung. Auf allen Etagen der romantischen Villa am Nilufer lärmen Kinder. Sie lesen, spielen oder vertreiben ihre Zeit mit Computerprogrammen, Hörkassetten und anderen neuen Medien. Aber die Mubarak Public Library ist eine Ausnahme – eine nahezu unwirkliche Oase für kindliche Kreativität. Nur wenige Orte dieser Art gibt es in der 17-Millionen-Metropole Kairo.
Die deutsche Workshop-Teilnehmerin Heidi Rösch von der Technischen Universität Berlin ist erstaunt darüber, denn sie hat in diesen Tagen Ägypten als ein Land der Kindernarren erlebt. Aber wer zum Beispiel ausgiebig durch Kairoer Spielwarenläden schlendert, stellt fest, dass das ägyptische Spielzeug vor allem bunt und laut ist und oberflächliche Unterhaltungsreize bedient.
Es ist so, wie die Erwachsenen sich vorstellen, dass es Kindern gefällt. Nur wenige Produkte widmen sich dem kreativen, überraschenden Erschließen des Lebensalltages. Mit den Büchern für Kinder ist es ähnlich. Selten ermutigen sie zu einem eigenen, auch kritischen und widersprüchlichen Zugang zur Welt.
Auf der Suche nach geeigneter Literatur
Vielleicht ist das eine Erklärung dafür, dass neben Kinderbüchern das Angebot an Literatur für die etwas Älteren sowie die Jugendlichen eher mager ist. Kinder in Ägypten dürfen Spaß haben, ihre Kindheit genießen. Sie bleiben bis spät nachts auf und spielen noch um Mitternacht in den Gassen, sie dürfen laut und temperamentvoll sein. Aber wenn sie langsam in die Erwachsenenwelt hineingeraten, hören sie irgendwie auf, eigenständige Persönlichkeiten zu sein.
Auf dem Workshop wurde das deutlich. Dort wurde darüber gesprochen, welche Literatur aus anderen Kulturen ägyptischen Kindern angeboten werden sollte. "Die Inhalte ausländischer Bücher", erklärt die Dozentin Sayeda Hamid, "eignen sich oft nicht für unsere Kinder."
Bei Einwänden dieser Art geht es um Traditionen und Werte – auch religiöse – und die ägyptischen Fachfrauen machten mehr als einmal deutlich, dass sie das Hauptziel von Kinderliteratur darin sehen, den Nachwuchs zu formen.
Für Heidi Rösch ist das "ein sehr alter Begriff von Pädagogik", und eine ägyptische Zuschauerin sagt in der Pause etwas entnervt: "Wir reden ständig darüber, was man alles nicht darf, statt dass wir davon sprechen, was erlaubt ist und unsere Kinder dazu ermutigen, diese Spielräume auch auszunutzen."
Lokale Kultur kontra globalisierte Medienlandschaft
Insgesamt begegneten die ägyptischen Teilnehmerinnen dem Begriff "Welt" im Veranstaltungsmotto "Ich zeig Dir meine Welt" wohl eher kritisch, angesichts der Dominanz globalisierter, zumeist westlicher Kinder- und Jugendkultur, die über Satellitenfernsehen, Internet, Werbung und anderer Träger auch die ägyptischen Kinderstuben erreicht. So war es vor allem ihre Sorge, welchen Beitrag ägyptische Kinderliteratur dazu leistet, die eigene Identität zu wahren.
"Es ist ein Minderheitenansatz", sagt Heidi Rösch. Ein Ansatz, bei dem die eigene, die ägyptische Literatur vor allem eine Botschaft transportieren soll: "Wir sind auch wer!" Dabei ergäben sich durchaus Parallelen zur Migrationsliteratur in den westlichen Gesellschaften. Im Grunde, so Rösch, führe die Globalisierung zu dem grotesken Phänomen, dass die Migration zu den Leuten käme, selbst wenn sie ihre Länder nicht verließen.
Aber gerade das Konkurrenzmedium Fernsehen zeigt auch hoffnungsvolle Ansätze. Die ägyptische Sesamstraße mit dem Titel "Alam as-Simsim" wird in ländlichen Gebieten von 86 Prozent und in den Städten von 99 Prozent aller Kinder unter acht Jahren gesehen. Die Sendung widmet sich Themen wie Gleichberechtigung der Geschlechter, Umwelt und gesellschaftliches Engagement – und das ausschließlich mit ägyptischen Muppet-Charakteren in landestypischer Umgebung.
Ebenso die intelligente Zeichentrickserie "Bakar" mit den Abenteuern des gleichnamigen kleinen Nubier-Jungen. Beide Sendungen befinden sich auf dem Boden ägyptischer Werte und Traditionen, beide Sendungen verzeichnen einen enormen Erfolg, von dem Kinderbücher in Ägypten nur träumen können.
Das Wettrennen zwischen Kinderfernsehen und Kinderbuch ist in Ägypten eines zwischen Hase und Igel. Die Mehrheit der ägyptischen Eltern muss jeden Piaster zweimal umdrehen. Warum also Geld für Kinderbücher ausgeben, wenn die Flimmerkiste auf der Anrichte sowieso den ganzen Tag dudelt? Angesichts der generellen Krise der Kinderliteratur in Ägypten (und anderer arabischer Länder) erscheint die Frage nach ihrem interkulturellen Ansatz offensichtlich von ziemlich nebensächlicher Bedeutung.
Doch zum Schluss des Worksshops konnte Elisabeth Pyroth vom Goethe-Institut noch eine gute Nachricht verkünden: Sechs deutsche Kinderbücher werden in Kooperation mit je einem Verlag aus Beirut, Kairo und Rabat ins Arabische übersetzt und veröffentlicht. Der besorgte Zwischenruf aus dem Publikum kam prompt: "Aber bitte auch in entgegengesetzter Richtung!"
Jürgen Stryjak, © Qantara.de 2004