Zu schön, um wahr zu sein
Der Beginn des Frühlings wird in Mesopotamien am 21. März mit Feuer und Tanz gefeiert. So auch in den kurdischen Regionen der Türkei. Doch das Newroz-Fest 2013 markiert eine politische und historische Zäsur in der Geschichte des kurdischen Konfliktes, der über 40.000 Menschen das Leben gekostet hat.
Noch nie war der Frieden so greifbar nah wie im Frühling 2013. Abdullah Öcalan, der Führer der kurdischen Guerillabewegung PKK, hat die Botschaft verkündet: Die Waffen sollen schweigen. Die bewaffneten Kämpfer sollen sich aus der Türkei zurückziehen. "Es ist Zeit der Politik und nicht der Waffen."
Über eine Million Kurden jubelten als zwei Abgeordnete der kurdischen Partei BDP in Diyarbakir die Botschaft verlasen. Darin ging Öcalan auf die Höhen und Tiefen türkisch-kurdischen Zusammenlebens ein: die Zeit der Propheten, das Osmanische Reich, den Ersten Weltkrieg, die Gründerjahre der Türkischen Republik.
Ergebnis geheimer Verhandlungen
Doch wer glaubte, dass der 63-Jährige, der seit 14 Jahren auf der Gefängnisinsel Imrali einsitzt, eine Kapitulationsurkunde unterzeichnet hat, irrte gewaltig. Der Waffenstillstand ist vielmehr Ergebnis geheimer Verhandlungen, die Öcalan seit Ende vergangenen Jahres mit dem türkischen Staat führt und die sowohl unter den Türken als auch unter den Kurden große Erwartungen geweckt haben.
Die große gesellschaftliche Mehrheit ist der vielen Toten längst überdrüssig. Selbst Mütter getöteter Soldaten kommen heute mit Müttern getöteter PKK-Kämpfer zusammen, um das gemeinsame Leid zu beklagen. "Der schöne Traum vom Frieden" hat selbst türkischen Kolumnisten die Sprache verschlagen. Öcalan war über Jahrzehnte hinweg die Inkarnation des Bösen, der "Kindermörder" und "Top-Terrorist".
Nun also soll er eine seriöse, politische Person sein, dessen Botschaft der türkische Ministerpräsident als "positiv" einstuft? Eine Manifestation von einer Million Kurden, faktisch von der PKK in kollegialer Absprache mit der türkischen Polizei organisiert, die live im Fernsehen übertragen wird mit Öcalan als kurdischem Nationalhelden und Friedenstifter, der den Türken die Hand reicht… Vor einem Jahr noch wurde geschossen.
Ungewohnte Eintracht
Der Traum vom Frieden ist zu schön, um wahr zu sein. Doch zwei mächtige Figuren stecken hinter dem Plan: Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der seit über einem Jahrzehnt die Türkei regiert und es geschafft hat, das einst mächtige Militär aus dem politischen Leben zu verbannen. Ehemalige Generalstabschefs, die einst Regierungen stürzten, sitzen heute in Untersuchungshaft.
Auch in der Kurdenfrage hat Erdogan Einiges in Bewegung gesetzt. So wurde der Leugnung des kurdischen Volkes und der Politik der Zwangsassimilierung ein Ende gesetzt. Doch obwohl durch Wahlen legitimiert und formell unter parlamentarischer Kontrolle, regiert Erdogan mit einem autokratischen und autoritären Führngsstil. Erdogan verhehlt nicht seine Sympathien für ein Präsidialsystem. Eine endgültige Lösung des kurdischen Konfliktes und eine neue Verfassung, die voraussichtlich in dieser Legislaturperiode verabschiedet wird, sollen hierfür den Weg ebnen.
Verehrt wie ein Halbgott
Auf der anderen Seite Öcalan, der wie ein Halbgott von vielen Kurden verehrt wird, innerhalb der PKK jedoch nicht den geringsten Widerspruch duldet und in stalinistischer Manier die Organisation anführt. Sofort im Anschluss an die Verkündigung der Waffenruhe erklärte die PKK, sie wolle den Anweisungen des "Volksführers" folgen.
Alle wollen den Frieden. Doch über den Fahrplan gibt es nur Spekulationen von Journalisten. Es ist ein klandestiner Deal zwischen Erdogan und Öcalan. Bezeichnenderweise ist der einzige Mann, der alles weiß, der türkische Geheimdienstchef Hakan Fidan, der für den Pendelverkehr zwischen Öcalan und Erdogan zuständig ist.
Beide Machtpolitiker wissen, dass sie vom Frieden auch politisch erheblich profitieren werden. Ein Kompromiss mit den Kurden würde Erdogan nicht nur auf unabsehbare Zeit das Amt sichern. Die Türkei würde auch als Regionalmacht erheblich an Stärke gewinnen.
Schon heute sind die irakischen Kurden, die sich weitgehend von Bagdad abgekoppelt haben, wirtschaftlich Teil des boomenden türkischen Kapitalismus. Die Öl- und Gasströme laufen in die Türkei. Die Milliardeninvestitionen und die Warenströme kommen aus der Türkei. Auch auf die Kurden in Syrien hätte ein türkisch-kurdischer Kompromiß große Ausstrahlungskraft.
In den Geschichtsbüchern könnte Erdogan womöglich an Bedeutung dem Gründer der Türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk, folgen. Öcalan auf der anderen Seite wäre nicht nur der Mann, der durch seinen bewaffneten Kampf dem unterdrückten, kurdischen Volk eine Stimme verliehen hat, sondern auch derjenige, der den Frieden stiftete, wo die Kurden den Türken gleichgestellt sind.
Drohender Bumerangeffekt
Das Fehlen von Transparenz im Friedensprozess könnte sich als Bumerang erweisen. Wie ist es öffentlich vermittelbar, daß Tausende Funktionäre der legalen, kurdischen Partei BDP, die auch im türkischen Parlament vertreten ist, als mutmaßliche Sympathisanten der PKK in Haft sind, während Öcalan – in Abwesenheit zwar – vor einer Million Menschen in Diyarbakir redet? Wie ist es vermittelbar, dass mitten im Friedensprozess der Untersuchungsausschuss des türkischen Parlamentes, die Umstände, die im Dezember 2011 zur Bombardierung von kurdischen Zivilisten durch die türkische Luftwaffe führten, verschleiert, statt diese aufzuklären?
Aufgearbeitet wird der blutige Konflikt nicht. Von der Einrichtung einer Wahrheitskommission nach südafrikanischem Vorbild ganz zu schweigen. Wie soll es einen Frieden geben, wenn die Vergangenheit nicht kritisch und öffentlich aufgearbeitet wird? Doch aus byzantinisch-osmanischer Geschichte lernen wir: Ausgefeilte Intrigenspiele haben nicht nur Böses, sondern zuweilen auch Gutes beschert.
Ömer Erzeren
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de