Kurdenkonflikt bedroht Erdogans Erbe
Auf Istanbuls höchstem Hügel, dem Camlica, mit dem besten Blick auf den Bosporus, sollen bald sechs Minarette in den Himmel wachsen. Das Design der neuen Moschee: retro-osmanisch. Sie soll mehr Menschen fassen als Istanbuls Hauptmoschee Sultanahmet, die bislang als einzige der Türkei sechs Türme trägt. Für Stadtplaner ist das neue Bauwerk ein Graus.
Regierungschef Recep Tayyip Erdogan aber freut es. Er wünscht sich nach zehn Jahren im Amt ein Wahrzeichen für seine Stadt, an einem Ort, den man "von allen Seiten" sieht. Der Islam schätze Bescheidenheit, höhnen Erdogans Kritiker. Den Premier scheint es nicht zu stören.
Seit einer Dekade regiert Erdogan mit seiner sunnitisch-islamischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, der AKP, die Türkei. Drei Parlamentswahlen hat die AKP gewonnen und dabei jedes Mal ihr Ergebnis verbessert, zuletzt auf 50 Prozent. Wenn der Plan des Premiers aufgeht, dann wird er 2014 Präsident. Zuvor wird er bereits länger im Amt gewesen sein als alle türkischen Regierungschefs seit 1946, seit die Republik ein Mehrparteiensystem kennt.
Erdogan, der konservative Aufsteiger aus einem Istanbuler Armenviertel, hat das Land umfassender modernisiert als alle seine Vorgänger. Die Türkei hat viele Tabus abgelegt, sie hat sich geöffnet, die Wirtschaft boomt. Die Krise in Europa schmerzt die Exporteure, aber türkische Waren haben viele Abnehmer in Asien und Afrika. Erdogans emsige AKP könnte sich in ihrem Erfolg sonnen. Aber ihr wird die Macht selbst zur größten Gefahr.
Erdogan erlebt, was viele Dauerregenten spüren: die Erosion der Macht von innen; durch Korruption und Kabale, Vetternwirtschaft und den Mangel an Kritik. Der 58-Jährige reagiert mit eiserner Faust auf Widerworte aus den eigenen Reihen. Als jüngst der Chef der AKP in der Kurdenmetropole Diyarbakir warnte, die Partei verliere die religiösen Kurden, musste er seinen Posten räumen.
Erdogans autoritärer Stil bewirkt, dass es selbst in der AKP nur wenig Sympathien für ein Präsidialsystem gibt, das sich der Premier per Verfassungsänderung gern auf den Leib schneidern würde. Putinismus auf türkisch - das ist vielen Türken zu viel des Guten.
Der Kurdenkonflikt wirft das Land zurück
Mehr noch gefährdet die unvollendete Demokratisierung das türkische Erfolgsmodell. Zwar gibt es inzwischen viele Versuche, die dunkle Vergangenheit aufzuarbeiten. Eine Parlamentskommission und Gerichte befassen sich mit den ungeklärten Morden der finsteren Neunzigerjahre. Selbst der frühere Präsident Kenan Evren wird nun, 30 Jahre nach seinem Putsch, von einem Richter verhört - im Krankenbett per Videokonferenz.
Die Bilder erinnern an den gestürzten ägyptischen Diktator Hosni Mubarak, wie er in einem Gerichtssaal in Kairo auf einer Pritsche liegt. Putsche, Folter, Polizeigewalt - damit stand die Türkei in unseliger nahöstlicher Tradition, und bis heute ist sie ein traumatisiertes Land. Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist ohne Zweifel wichtig.
Was die Gegenwart betrifft, fällt die Bilanz weniger günstig aus. Immer noch gibt es Antiterrorgesetze, die Hunderte in die Gefängnisse bringen, fürs Kleben von Plakaten oder das Schreiben von Propagandablättchen. Das trifft insbesondere die Kurden. Auch Erdogan hat es in zehn Regierungsjahren nicht geschafft, den blutigen Kurdenkonflikt zu beenden.
Mehr als 40 000 Todesopfer hat der Krieg zwischen türkischem Militär und der militanten kurdischen Arbeiterpartei PKK seit 1984 gefordert. In den vergangenen Monaten gab es wieder besonders viele tote Soldaten, und noch mehr tote kurdische Kämpfer. Der Konflikt hat zur Folge, dass Teile der Türkei auf dem Stand eines Entwicklungslandes bleiben, während in Istanbul Wolkenkratzer und verspielte Minarette gebaut werden.
Etwa jeder fünfte bis sechste türkische Staatsbürger ist Kurde, so genau weiß man das nicht. Der Konflikt spaltet auch die Kurden. Er entfernt die Türkei zudem von Europa, und er schwächt sie außenpolitisch.
Die türkische Regierung gehört zu den schärfsten Gegnern des syrischen Diktators Baschar al-Assad, sie hilft der syrischen Opposition, wo sie kann. Syrien war für die Türkei vor dem Bürgerkrieg das Tor zur arabischen Welt, das soll es wieder werden. Ankara träumt von einem Bruderstaat als Nachbarn, so wirtschaftsliberal wie die Türkei und am besten mit sunnitischer Regierung.
Wenn Assad fällt, könnte auf der syrischen Seite der Grenze zur Türkei aber auch eine Art Kurdenstaat entstehen. Und im Gegensatz zu den irakischen Kurden, mit denen Ankara inzwischen beste Handelsbeziehungen pflegt, weht bei den syrischen Kurden die Fahne der PKK. Auch das erklärt die Eile, mit der Ankara nun die Friedenssuche mit dem Erzfeind betreibt.
Das Besondere an dieser Friedenssuche ist: Sie findet nicht mehr im Geheimen statt, sondern quasi in aller Öffentlichkeit. Die türkischen Medien sind voll von angeblichen Details aus den Gesprächen zwischen Geheimdienstlern und dem auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan.
Zwar lassen sich die Angaben kaum überprüfen, aber die Fülle an Einzelheiten spricht dafür, dass die türkischen Medien von der Regierung mit Informationen gefüttert werden. Das lässt erahnen, dass die türkische Gesellschaft im Gegenzug für eine erhoffte Entwaffnung der PKK auf eine große Amnestie vorbereitet werden soll. Das wäre für die Türkei ein gewaltiger Schritt, eine Chance, sich aus den Fesseln der Vergangenheit zu befreien.
Es ist Zeit für einen Wandel
Aber es gibt noch viele Hürden und Fallstricke. Die Morde an drei Kurdinnen in Paris zeigen das. Eine der drei Frauen gehörte zu den Gründerinnen der PKK, die in der Türkei wie in Europa immer noch als Terrororganisation gilt. Sie blieb der PKK wohl bis zuletzt verbunden - aber sie war keine Kämpferin mehr. Die Botschaft der Mörder könnte lauten: Wenn ihr Frieden wollt, dann seid ihr nirgendwo sicher, nicht einmal im Exil.
Weitere Attentate und PKK-interne Abrechnungen könnten folgen. Sie müssen den Friedensprozess nicht aufhalten. Auch die türkische Opposition, mit Ausnahme der extremen Nationalisten, unterstützt, was sie selten tut, in diesem Fall die Regierung in Ankara. Die Zeit für einen Wandel ist überreif.
Das stärkt Erdogans Hand, er könnte nun die Schatten der Vergangenheit wegschieben. Dann aber fallen auch all die Ausreden weg, die Ankara immer vorbringt, wenn die EU innenpolitische Reformen verlangt wie die Abschaffung der Antiterrorgesetze, die Garantie der Pressefreiheit, ein Ende der Polizeiwillkür. Dennoch hätte die Türkei dann wirklich etwas zu feiern, wenn Erdogan im März sein zehntes Amtsjubiläum begeht. Mit oder ohne neue Minarette.
Christiane Schlötzer
© Süddeutsche Zeitung 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de