Ägyptens Regierung werkelt am neuen Menschen
In Ägypten herrscht ideologische Generalmobilmachung. Es geht um nicht weniger als den "Aufbau des neuen ägyptischen Menschen" – so ist die Kampagne überschrieben, für welche die Regierung wie auch Staatschef Abdel Fattah al-Sisi persönlich seit Monaten ohne Unterlass werben.
Auf dieses zivilisatorische Großprojekt, das insbesondere auf die junge Generation zielt, dürften ihre Eltern und Großeltern allerdings mit einer gewissen Portion Skepsis blicken. Denn die Heranzucht eines idealtypischen "neuen ägyptischen Menschen" hatten sich die Herrschenden am Nil auch früher schon vorgenommen – und waren damit gescheitert.
So sollte einst unter Gamal Abdel Nasser mittels des propagierten Idealgeschöpfs die panarabische Vision von der Vereinigung aller Araber verwirklicht werden, die aber die verheerende militärische Niederlage Ägyptens im israelisch-arabischen Krieg von 1967 schon bald zerschlug.
Nassers Nachfolger Anwar al-Sadat begünstigte anfangs den damals aufkeimenden Islamismus indirekt durch seinen islamfreundlichen Kurs; später aber versuchte er, dieser Strömung einen neuen, allein auf das ägyptische Erbe fixierten Menschentyp entgegenzustellen, dessen Nationalstolz sich auch aus der vorislamischen Pharaonenzeit speisen sollte. Doch das Experiment misslang, und als Sadat 1981 von islamistischen Attentätern erschossen wurde, glaubten diese, das islamische Land von einem neuen "Pharao" befreit zu haben.
Hosni Mubarak, der Sadat im Amt folgte, antwortete mit einer noch stärkeren Betonung des Pharaonismus als Quelle der ägyptischen Identität. Dies diente vor allem dazu, seinen autoritären Führungsstil zu legitimieren und sein Image als unerbittlicher Bekämpfer des islamistischen Terrorismus zu stützen.
Das Herz der Welt
Mit diesem vorwiegend säkularen Identitätsbild wollten die Muslimbrüder während ihrer kurzen Herrschaft aufräumen. Bekanntlich blieb ihnen für die angestrebte Reislamisierung der ägyptischen Gesellschaft und Kultur keine Zeit. Ihr erbitterter Gegner Al-Sisi, der sie ähnlich wie ehemals Nasser erbarmungslos verfolgt, hatte schon zu Beginn seiner Herrschaft erkennen lassen, dass er bei der Gestaltung der nationalen Identitätspolitik aus den Fehlern seiner säkularen Vorgänger gelernt hat.
So wurde in der Anfang 2014 verabschiedeten ägyptischen Verfassung in fast schon panarabischer Manier das "arabische Ägypten" als "Herz der ganzen Welt" beschworen, während gleichzeitig das Land auch als "Drehscheibe der Zivilisationen und Kulturen" und sogar als Wiege der drei monotheistischen Religionen gepriesen wurde. Im mit der Pflege des nationalen Erbes befassten Artikel 50 wird zudem ausdrücklich betont, dass dazu ebenso das der pharaonischen wie auch jenes der koptischen und der islamischen Ära gehöre.
Blinde Flecken
Dieses an sich schon sehr breite zivilisatorische Fundament wird im Zuge der gegenwärtigen Kampagne für die Schaffung des "neuen ägyptischen Menschen" noch erweitert. Dazu greift man auch auf das 1989 erschienene und seitdem immer wieder aufgelegte staatsphilosophische Werk "Die sieben Säulen der ägyptischen Identität" zurück.
Es stammt aus der Feder des koptischen Bauingenieurs und Schriftstellers Milad Hanna (1924–2012), laut dem die ägyptische Identität auf so gut wie allen Phasen der ägyptischen Geschichte fußen soll: der pharaonischen, der griechisch-römisch-byzantinischen, der arabischen und der islamischen.
Als identitätsbildend betrachtete Hanna auch die Zugehörigkeit zum arabischen, zum mediterranen und zum afrikanischen Raum. Diese Vielfalt sah der ägyptische Kopte als Bollwerk gegen Fanatismus und Terrorismus – eine Lesart, die dem Sisi-Regime mehr als willkommen ist, denn dieses stilisiert Ägypten nicht zuletzt auch deshalb zum Ort der Toleranz schlechthin, um von der brutalen Verfolgung der Muslimbrüder abzulenken.
Die staatsnahe Presse hebt nicht nur den Vorbildcharakter von Hannas unlängst neu aufgelegtem Buch hervor, sondern verwebt es auch mit dem nationalen Projekt der Schaffung eines neuen ägyptischen Menschen. So widmete kürzlich die Tageszeitung "Al-Ahram" dem Thema gleich eine ganze Artikelserie.
Hatem Abdel Munam, ein prominenter Kommentator und Umweltsoziologe, griff darin immer wieder Milad Hannas These von der Offenheit und der außerordentlichen kulturellen Wandlungsfähigkeit der Ägypter auf, um staatliche Akteure und Institutionen wie die Al-Azhar-Universität, die durch Aufrufe zu religiöser Toleranz das Ihre zur gegenwärtigen staatlichen Kampagne beiträgt, als Repräsentanten dieser mentalitätsgeschichtlichen Grundstruktur zu inszenieren.
Dass dafür manch problematisches Geschichtskapitel wie die gewaltsame islamische Eroberung Ägyptens durch Mohammeds Gefährten Amr ibn al-As beschönigt wird, scheint niemanden zu stören. Denn Erziehung zu gesellschaftlicher Harmonie, Konsensfähigkeit und Unterordnung in das Kollektiv, das sich dem Diktat der Staatsführung zu unterwerfen hat, ist das eigentliche Ziel der staatlichen Identitätskampagne, was öffentlich allerdings nicht ausgesprochen werden darf.
So versucht Präsident Al-Sisi dem Volk in seinen Ansprachen den "Aufbau des neuen Menschen" als Projekt der gesamten ägyptischen Gesellschaft – und nicht nur des Staates – zu verkaufen.
Aber wenn er im selben Atemzug von den Ägyptern neben Reformfreude auch ausdrücklich Opferbereitschaft fordert, drängt sich unweigerlich der Verdacht auf, dass es in Wahrheit eher um Anpassung an sein eigenes konservatives Weltbild und um bedingungslose Unterwerfung geht.
Im Sinne der Machthaber wird denn auch die beschworene facettenreiche ägyptische Identität instrumentalisiert, wenn etwa versucht wird, dem Volk die neuen städtebaulichen Mammutprojekte der Regierung mit Verweis auf die architektonischen Leistungen der Pharaonen schmackhaft zu machen.
Das Bekenntnis zum Mediterranen, das vor zwei Jahrzehnten für kurze Zeit in Mode gekommen und dann schnell in Vergessenheit geraten war, wird neuerdings wieder artikuliert, um die wirtschaftliche Zusammenarbeit auch mit einem nicht gerade populären Nachbarn wie Israel salonfähig zu machen.
Auf Geheiß des Präsidenten werden jetzt sogar noch erhaltene jüdische Denkmäler im Land, in dem kaum noch Juden leben, restauriert – ein in erster Linie wohl tourismuspolitisch motivierter Schritt, der sich aber ebenfalls ohne weiteres mit dem propagierten neuen ägyptischen Multikulturalismus begründen lässt.
Wenig Begeisterung im Volk
Die staatlich verordnete Begeisterung für den zivilisatorischen Aufbruch am Nil, den das Wochenmagazin "Ruz al-Yusuf" gar zu einer "umfassenden Revolution" stilisierte, will sich beim Volk offenbar nicht so recht einstellen.
Bildungsminister Tareq Shauqi, der ähnlich wie Präsident Al-Sisi die Kampagne zu einer "Volksangelegenheit" erklärt hat, klagte kürzlich darüber, dass sich gegen die ins Auge gefasste Erweiterung der schulischen Lehrpläne um Themen aus Kultur und Kunst sowie um Sportaktivitäten ausgerechnet vonseiten der Eltern Widerstand rege.
Solche Vorbehalte führt man in Regierungskreisen und den ihnen nahestehenden Medien nur allzu gern auf die angebliche Uninformiertheit der Bürger zurück. Dabei wird unterschlagen, dass es gerade Staatsvertreter sind, die zur allgemeinen Verunsicherung beitragen: Etwa wenn Kulturministerin Ines Abdel Dayem die Eröffnung immer neuer Kulturhäuser im Land als Verdienst der neuen Identitätskampagne präsentiert, wo doch die Initiative zur Erneuerung und Neugründung solcher Häuser viel weiter zurückreicht.
Öffentliche Kritik am Projekt des neuen ägyptischen Menschen wird indes selten laut. Den Widerspruch zwischen den offiziellen Pluralismus- und Toleranzparolen und der tatsächlich in Ägypten herrschenden Unfreiheit erlaubte sich der ägyptische Prosaautor und Kolumnist Saad al-Qarsh zwar zu kritisieren; aber er tat dies bezeichnenderweise in der in London erscheinenden Zeitung "Al-Arab".
Joseph Croitoru
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