Islamische Klassiker vor dem Vergessen bewahrt
Als die mongolische Armee unter Führung von Hülegü Khan, einem Enkel des Dschingis Khan, im Jahr 1258 Bagdad überfiel, plünderten die Mongolen auch die kostbaren Schätze des Hauses der Weisheit – eine der damals bedeutendsten Akademien mit der wohl größten Bibliothek des Mittelalters – und warfen die Bücher in den Tigris.
Volkstümlichen Überlieferungen zufolge färbte sich der Fluss schwarz von der Tinte der Manuskripte. Die Invasion der Mongolen markierte den Niedergang des „goldenen Zeitalters“ des Islam und versetzte die reiche arabisch-islamische intellektuelle Tradition in eine Abwärtsspirale.
Während und auch nach der mongolischen Invasion pflegten allerdings einige herausragende Persönlichkeiten das kulturelle Erbe nach besten Kräften. Trotz der Zerstörung der Bibliothek von Bagdad überlebte ein beachtlicher Bestand an arabischen Manuskripten, die in anderen Bibliotheken des ehemaligen Abbasiden-Reichs aufbewahrt wurden.
Massiver Verlust von Manuskripten
Der immer noch große Bestand an Manuskripten schrumpfte vom 14. bis zum 19. Jahrhundert aufgrund verschiedener Faktoren weiter massiv. Darunter Titel, die wir heute als Klassiker im Kanon des islamischen Denkens betrachten.
Ein Grund dafür war unter anderem, dass in dieser Zeit die lebhafte islamische intellektuelle Tradition allmählich einer Ära der textbezogenen Scholastik und epistemologischen Esoterik wich. Darüber hinaus beschleunigten mangelnde Konservierung, Verzögerungen bei der Einführung der Drucktechnik und eine massive Jagd nach islamischen Klassikern durch Orientalisten, die sie für stolze Summen an private Sammler und Bibliotheken im Westen verkauften, das Verschwinden vieler vormoderner klassischer Texte.
Hätte sich nicht eine kleine Gruppe von Intellektuellen im 19. und frühen 20. Jahrhundert intensiv darum bemüht, die verbliebenen Manuskripte aufzuspüren und in großer Zahl neu zu veröffentlichen, hätte die islamische Welt einen großen Teil ihrer wertvollen klassischen Werke verloren. Flankiert wurden diese Bemühungen durch die Einführung des Buchdrucks in der arabischen Welt, was den Reformern bei ihrem historischen Unterfangen zugutekam.
Ahmed El Shamsys “Rediscovering the Islamic Classics: How Editors and Print Culture Transformed an Intellectual Tradition” (dt. Die Wiederentdeckung der islamischen Klassiker: Wie Herausgeber mit der Drucktechnik die intellektuelle Überlieferung transformierten) zeichnet die faszinierenden Geschichten der Reformisten und ihre bemerkenswerten Beiträge zum Wiedererwachen der klassischen arabisch-islamischen Geisteswissenschaften nach.
Dem intensiven Engagement dieser Intellektuellen – zu denen unter anderem einige der wichtigsten Reformer ihrer Zeit gehörten, wie Muhammad Abduh, Tāhir al-Dschazā'irī und Muhammad ibn ʿAlī asch-Schaukānī – ist es zu verdanken, dass die vergessenen Werke der islamischen Literatur gedruckt und zum Zwecke religiöser Reformen nutzbar gemacht wurden.
Klassiker wiederentdecken
In den ersten Kapiteln untersucht El Shamsy, wie die islamische Welt ihr reiches Erbe zu einer Zeit vernachlässigte, als europäische Bibliotheken einen unstillbaren Appetit auf islamische Manuskripte entwickelten und Orientalisten sich der Rekonstruktion der islamischen Wissenschaft widmeten.
In den weiteren Kapiteln geht er der akribischen Arbeit und dem großen Engagement der Reformisten bei der Wiederentdeckung vergessener Manuskripte nach, die diese ab dem späten 19. Jahrhundert in hohen Auflagen drucken ließen. Infolgedessen tauchten die klassischen Werke, die während der gesamten „postklassischen“ Periode an den Rand gedrängt und nicht zur Kenntnis genommen worden waren, im akademischen und wissenschaftlichen Diskurs in großer Zahl auf und lösten eine Wiederbelebung und Reformation der islamischen Wissenschaft in der gesamten Region aus.
Zu den Manuskripten gehörten einige der wegweisenden Werke des arabisch-islamischen Kanons: al-Sibawayhis Grammatik aus dem achten Jahrhundert, asch-Schāfiʿīs juristische Abhandlung aus dem neunten Jahrhundert, at-Tabarīs umfangreiche Koranexegese aus dem neunten Jahrhundert, al-Aschʿarīs Überblick über die islamische Theologie aus dem zehnten Jahrhundert, al-Makkis Sufi-Handbuch aus dem zehnten Jahrhundert und Ibn Chaldūns Geschichtssoziologie aus dem vierzehnten Jahrhundert.
Die meisten dieser Werke waren im 19. Jahrhundert kaum oder nur schwer zu finden, einer Zeit, als sich der Diskurs islamischer Gelehrter auf die „dichten technischen Kommentare zu früheren Werken“ konzentrierte, die üblicherweise erst Jahrhunderte nach den Originalwerken verfasst worden waren.
Dieser Trend in der textbezogenen Orthodoxie herrschte in der islamischen Welt nach dem 16. Jahrhundert vor und verengte den wissenschaftlichen Diskurs auf eine Handvoll popularisierter Texte. Die Gelehrten jener Zeit beschränkten sich auf haarspalterische Betrachtungen dieser Kommentare sowie ihrer Randbemerkungen und Fußnoten, während die Originale verstauben oder von westlichen Bibliotheken in Besitz genommen wurden.
Hindernisse auf dem Weg zur Rettung des klassischen Erbes des Islam
Über diese Engführung gerieten wichtige Werke der Gründer der verschiedenen Schulen des islamischen Rechts, der Theologie, Philosophie, Linguistik, des Sufismus und der Geschichtsschreibung in Vergessenheit. Hinzu kam ein zunehmender esoterischer Trend, der in der spirituellen Erleuchtung die überlegene Form des Erkenntnisgewinns sah. Der nachlässige Umgang der islamischen Welt mit ihrem eigenen klassischen Erbe ging einher mit einem unterfinanzierten und unangemessenen System der Konservierung, Pflege und Sicherung von Manuskripten.
Die Reformisten mussten daher hohe Hürden überwinden und hierzu eine Reihe von philologischen, organisatorischen und finanziellen Ressourcen bündeln sowie viel Zeit und Engagement aufwenden. Sie mussten Manuskripte aufspüren und beschaffen, vollständige Werke aus Fragmenten zusammensetzen, Texte trotz Fehlern und Beschädigungen entziffern und ihren Sinn ohne Zugang zu adäquatem Referenzmaterial erfassen.
El Shamsy schildert fesselnd, wie sie diese Herausforderungen meisterten, indem sie mitwirkten beim Aufbau von Institutionen und der Entwicklung von Verfahren sowie bei der Einführung moderner Redaktions-, Publikations- und Katalogisierungssysteme.
Ihre beharrlichen Bemühungen führten aus der engen postklassischen Tradition in eine breit gefächerte Literatur gedruckter, vornehmlich klassischer Werke, die wir heute als den wesentlichen Kanon an islamischen Texten betrachten. Damit einher ging eine tiefgreifende Transformation der arabisch-islamischen intellektuellen Tradition.
Spannende Jagd nach einem verschollenen schāfiʿītischen Klassiker
El Shamsy erzählt unter anderem eine spannende Geschichte über Ahmed Bey al-Husayni, einem ägyptischen Rechtsanwalt, der sich auf die schwierige Suche nach den fast vergessenen Gründungswerken der schāfiʿītischen Rechtsschule begab. Das Ergebnis seiner Suche war ein 24-bändiges Werk mit dem Titel „Murshid al-anam li-birr umm al-imam“, ein erschöpfender Kommentar zu asch-Schāfiʿīs Hauptwerk „Kitāb al-Umm“ (dt. „Das grundlegende Werk“).
Ahmed Bey al-Husayni veranlasste und finanzierte zudem die Veröffentlichung von „Kitāb al-Umm“, das zwischen 1903 und 1908 als 17-bändiges Werk erschien. In den beiden Jahrhunderten vor der Wiederentdeckung durch al-Husayni war Kitāb al-Umm wie viele andere klassische Werke nahezu vollkommen in Vergessenheit geraten bzw. verdrängt worden. Selbst Rechtswissenschaftler sahen es nicht als notwendig an, asch-Schāfiʿīs Texte selbst gelesen zu haben, um als asch-Schāfiʿī-Experten zu gelten.
El Shamsy schreibt, die Wiederbelebung der klassischen Literatur sei im Zuge einer breiter angelegten soziokulturellen Veränderung erfolgt, die in der islamischen Welt oft als Nahdha (wörtl. Renaissance) bezeichnet wird. Seiner Meinung nach ging es bei der Renaissance in der islamischen Welt nicht darum, die arabisch-islamische intellektuelle Tradition zugunsten einer importierten Moderne gänzlich abzulehnen, vielmehr griffen die Reformer auf die klassische Tradition zurück, um die postklassische zu hinterfragen, die sie als restriktiv und erstarrt ansahen.
Muhammed Nafih Wafy
© Qantara.de 2020
Aus dem Englischen von Peter Lammers