''Demokratie ist die Lösung''
Immer wieder ist zu hören, der "Arabische Frühling" sei völlig überraschend und gewissermaßen aus heiterem Himmel gekommen. Die Ereignisse die im vergangenen Frühjahr erst in Tunesien, dann in Ägypten und schließlich in Libyen die politische Landschaft derart verändert haben, dass die Bezeichnung Revolution nicht übertrieben wirkt, seien selbst für ausgewiesene Experten nicht vorhersehbar gewesen. Zu sicher hätten die Diktatoren bis dahin im Sattel gesessen, heißt es, und der über Jahrzehnte perfektionierte Repressionsapparat hätte die Verhältnisse stabilisiert.
Hinter dieser Einschätzung verbirgt sich nicht zuletzt eine gewisse Betriebsblindheit der Nahost-Beobachter, die es besser hätten wissen können. So hatte der 1957 geborene ägyptische Schriftsteller Alaa al-Aswani den Systemkollaps schon zwei Jahre vor Beginn der Massendemonstrationen auf dem Tahrir-Platz vorausgesehen.
"Wenn ein Regime sich ausschließlich auf die Unterdrückung verlässt", analysierte er in einem im April 2009 erschienenen Artikel, "verliert es offenbar die Tatsache aus dem Blick, dass der Repressionsapparat, mag er noch so mächtig sein, aus Individuen besteht, die zu dieser Gesellschaft gehören und ihre Unzufriedenheiten und Interessen teilen. Mit wachsender Repression sehen sich diese Individuen immer weniger in der Lage, ihre Verbrechen vor sich selbst zu rechtfertigen."
Keine prophetischen Ausnahmen
Früher oder später, folgerte Aswani, werde darum das Mubarak-Regime an sich selbst scheitern müssen und in sich zusammenfallen: "Und so wird der eiserne Griff des Regimes gebrochen und es erhält den verdienten Lohn. Für Ägypten, glaube ich, ist dieser Tag nicht mehr fern."
Die nun auch in deutscher Übersetzung vorliegende Auswahl der zwischen 2005 und 2010 erschienenen Kolumnen Aswanis zeigt, dass Aussagen wie die zitierte keine prophetischen Ausnahmen waren. Schon lange vor dem Frühjahr 2011 hatte sich in Ägypten eine erstarkende Opposition gegen Mubarak vernehmlich gemacht.
Bereits seit 2004 war die "Kifaya"-Bewegung, an der auch Aswani beteiligt war, aktiv. Und 2008 formierte sich die Bewegung des 6. April. "Alle Ägypter wissen dass der bisherige Status quo nicht länger aufrechtzuerhalten oder akzeptabel ist und dass die Veränderung unausweichlich kommt", notierte Aswani im November 2009.
Schon seit einiger Zeit hatten es Intellektuelle und Literaten mit ihrer Kritik an den Zuständen nicht an Deutlichkeit fehlen lassen. So war Alaa al-Aswanis im Original 2002 erschienener Roman "Der Jakubijân-Bau", der sich schnell international zum Bestseller entwickelte, ein Augenöffner gewesen, in dem die korrupten Strukturen der Kleptokratie, die Folter der Sicherheitsbehörden, die Farce der Wahlen, die drückende Armut der Bevölkerung und die allgegenwärtige Vetternwirtschaft offen zur Sprache kamen.
Abrechung mit der Politik Mubaraks
Und als 2003 Sonallah Ibrahim, einer der international renommiertesten ägyptischen Autoren, mit dem höchsten ägyptischen Literaturpreis ausgezeichnet werden sollte, kam es zu einem Eklat: Am Ende seiner Rede während des Festaktes anlässlich der Preisverleihung im Kairoer Opernhaus verfiel Ibrahim, in Anwesenheit hochrangiger Regierungsmitglieder, in eine Generalabrechnung mit der ägyptischen Politik und lehnte schließlich die Annahme des Preises aus den Händen der Regierung ab. Ein Schriftsteller, der seine Verantwortung ernst nehme, dürfe vor den im Land herrschenden katastrophalen Zuständen nicht die Augen verschließen, sagte er, bevor er den Saal unter Beifall verließ.
Chalid al-Chamissis Buch "Im Taxi", um ein drittes Beispiel zu nennen, wurde, obwohl bereits 2006 in Ägypten erschienen, zunächst international eher ignoriert, bis es nach dem Ereignissen des vergangenen Frühjahrs als "das ultimative Buch zur ägyptischen Revolution", so die Süddeutsche Zeitung, gefeiert wurde.
Auch die Tatsache, dass die politischen Kommentare und Einwürfe Aswanis aus der Zeit vor der Revolution erst nach der Revolution erscheinen, ist ein Indiz für den nachholenden Charakter des westlichen Interesses am "Arabischen Frühling", in dem sich vielleicht auch das schlechte Gewissen darüber ausdrückt, bislang nicht so genau hingesehen zu haben. Das Aufmerksamkeitsdefizit der Öffentlichkeit ging Hand in Hand mit einer geopolitischen Haltung des Westens, die konsequent auf Stabilität setzte und bis zuletzt an Mubarak festhielt, ein Umstand, auf den auch Aswani zu sprechen kommt.
Kritik an westlichen Lippenbekenntnissen
Die westliche Forderung nach Demokratie war ihm zufolge nicht viel mehr als ein Lippenbekenntnis. Noch 2009, als Hosni Mubarak auf Staatsbesuch in Washington war, so berichtet er, "erhielt Präsident Obama von seinem Freund Präsident Mubarak das Versprechen, dass die demokratische Reform in Ägypten, wiewohl ein langwieriger und nicht einfacher Prozess, unumkehrbar sei." Daraufhin gab Obama, so Aswani, nicht ohne Sarkasmus, "ein weiteres Mal seiner Bewunderung für Präsident Mubaraks Weisheit, Mäßigung und Mut Ausdruck."
Der Eifer vieler der in dem Band versammelten Texte geht auf Kosten der literarischen Qualität. Auch darf man keine allzu scharfe Analyse oder differenzierte intellektuelle Durchdringung der Verhältnisse von ihnen erwarten. Was hier nachzulesen ist, steht ganz im Zeichen von Authentizität und Spontaneität. Die Empörungsprosa Aswanis folgt atemlos dem Takt der sich überschlagenden Ereignisse.
An einigen Stellen des Buches sinkt das Niveau bedenklich und droht sich in billigen Verschwörungstheorien zu verlieren, wie man sie sonst von hiesigen Stammtischen fürchtet. Immer kämpferisch, oft polemisch und gelegentlich pamphletistisch zielt Aswanis Kritik zuallererst auf die Person Mubaraks und das mit ihr verbundene repressive System.
Das Land befinde sich mittlerweile in einem derart maroden Zustand, dass "die Zahl der Menschen, die mit Fähren untergehen, in Zügen verbrennen oder unter einstürzenden Häusern begraben werden" längst die "Zahl aller Gefallenen in den Kriegen, die Ägypten führte" übersteige. In Mohamed el-Baradei hingegen erkennt er eine geradezu messianisch gezeichnete Rettergestalt, die er in einigen befremdlich wirkenden Passagen in hagiographisch hohem Ton besingt.
Auf dem Weg zum "Taliban-Emirat"?
Den Einfluss des von Saudi Arabien propagierten wahhabitischen Islam macht er dafür verantwortlich, "dass die allgegenwärtige Religiosität" im gegenwärtigen Ägypten "oberflächlich und substanzlos ist." Mehr noch: die "Invasion reaktionärer und rückständiger wahhabitischer Ideen" sei dabei, Ägypten "in ein Taliban-Emirat zu verwandeln." Dieser Gefahr gelte es mit der Toleranz des "wahren Islam", entgegenzutreten, den er zum Bewahrer der Frauenrechte und frühen Garanten demokratischer Gesinnung idealisiert: "Wahrer Islam ist Demokratie."
Auch der Westen bekommt die Leviten gelesen: der antiarabische und antiislamische Ton von Teilen der westlichen Presse sei "noch vor zwei Jahrzehnten als unerträglich reaktionär und rassistisch betrachtet worden", die "zionistische Lobby der US-amerikanischen Politik" halte ihre schützende Hand über Mubarak und die westliche Politik sei insgesamt von Heuchelei und Doppelmoral geprägt.
Aswanis Kritik am ägyptischen Regime, religiöser Heuchelei und westlicher Doppelmoral entwächst einem selbstbewussten Patriotismus. Dass Ägypten "das Potential zu einem großen Staat" habe und "die größte Talentschmiede in der arabischen Welt" sei, wiederholt Aswani beinahe ebenso häufig, wie den fast allen Texten wie ein Kehrreim nachgestellten Slogan "Demokratie ist die Lösung."
Die weit verbreitete These, "die Ägypter seien für die Demokratie nicht qualifiziert" ist Aswani zufolge "einerseits eine Beleidigung" und zeige "andererseits eine peinliche Unkenntnis der ägyptischen Geschichte." Alaa al-Aswani leistet mit seinen engagierten Texten einen überzeugenden Beitrag, diese beleidigende und peinliche These zu widerlegen.
Andreas Pflitsch
© Qantara.de 2012
Alaa al-Aswani: Im Land Ägypten. Am Vorabend der Revolution. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Frankfurt/M., Fischer-Verlag 2011
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de