Kann denn Kino Sünde sein?
Der freie Umgang dem Aladdin-Stoff hat Tradition: Denn die ursprüngliche Quelle ist nach gegenwärtigem Stand der Dinge gar nicht arabisch, sondern französisch. Sie stammt aus dem Jahr 1712 und findet sich im neunten Band von "Les mille et une nuit", der ersten Übersetzung von "Tausendundeine Nacht" ins Französische durch Antoine Galland.
Der Aladdin-Stoff zählt zu denjenigen Texten von "Tausendundeine Nacht", für die sich partout keine arabische Vorlage ausmachen lässt. Gemäß einem Tagebucheintrag Gallands von 1709 hat er "Aladdin" von einem maronitischen Christen aus Aleppo in Paris erzählt bekommen. Die Geschichte ist auch in heutigen Druckversionen so lang wie ein kleiner Roman. Es stellt sich die Frage, wie hoch der Anteil Gallands bei der Ausgestaltung des Stoffes ist.
Einige Literaturwissenschaftlicher sind überzeugt, dass sich etliche europäische Märchenmotive in den arabischen Kern der Geschichte eingeschlichen haben. Klar ist jedenfalls, dass der Stoff bereits bei seinem erstmaligen Auftauchen 1712 in Paris ein Hybride ist, ein literarischer Bastard. Folglich ist es unsinnig, seine weiteren Bearbeitungen, Übersetzungen und medialen Transformationen mit Maßstäben der Treue zum Original oder der Treue zu Schauplätzen, Milieus, geschweige denn der Aussageabsicht irgendeines Verfassers zu messen.
Das aber wiederum heißt: Die Disney-Studios verfahren mit der Aladdin-Geschichte genau so, wie immer schon damit verfahren wurde. Wenn je ein Stoff frei war, ohne Copyright, offen für Plagiate aller Art, dann dieser. Es gibt wohl kaum ein Medium oder Genre, in dem Aladdin in den letzten dreihundert Jahren nicht verwurstet wurde.
Zwischen Plagiat, Parodie und freier Bearbeitung
Das 19. Jahrhundert verzeichnete sage und schreibe sieben deutsche, zwei französische, zwei englische eine italienische und eine dänische Aladdin-Oper. Der Disney-Trickfilm von 1992 und nun die Variante mit echten Schauspielern sind nur die jüngste Fortschreibung dieser hybriden Stoffgeschichte, in der Plagiat, Parodie und freie Bearbeitung gar nicht mehr zu unterscheiden sind. Woran soll man eine solche Geschichte messen, außer an ihrem – unbestreitbaren – (Massen-)Erfolg?
Dass es sich bei den orientalischen Märchen um gut verkäufliche Unterhaltungsliteratur handelte, wusste man immer schon – und war der Grund, warum Galland, der ja eigentliche Erfinder von "Tausendundeine Nacht" war, sich weitere arabische Geschichten mündlich berichten ließ, als die Manuskripte, die er von seinen Reisen in den Orient mitgebracht hatte (darunter ein echtes arabisches unter demselben Titel), erschöpft waren. Schon die gebildeten Araber des Mittelalters sahen übrigens auf diese und andere volkstümliche Erzählungen herab wie die Gebildeten heute auf die Disney-Verfilmung.
Trotzdem hat nun der einflussreiche 'Rat für amerikanisch-islamische Beziehungen' (CAIR) vor dem Aladdin-Film gewarnt und darauf hingewiesen, dass der Stoff tief in Rassismus, Orientalismus und Islamophobie verwurzelt sei.
Dabei haben sich die Macher diesmal angeblich besonders viel Mühe gegeben, um die rassistischen Stereotypen zu vermeiden, die im Zeichentrickfilm von 1992 noch offensichtlich waren. So kommt der Islam im Film gar nicht mehr explizit vor, abgesehen davon, dass die Schauplätze unübersehbar solchen nachempfunden sind, wie wir sie aus der muslimischen Architektur kennen. Die vielen Türmchen suggerieren Minarette, der Palast des Sultans ähnelt der Hagia Sophia.
Der Orient als Sehnsuchtsort
Ist das aber per se schlecht oder auch nur negativ gemeint? Zwar stellt dieser Phantasieorient eine fremde, andere, exotische Welt dar. Aber es ist keine solche, vor der wir uns fürchten und gegenüber der wir (Islamo-)Phobien haben, sondern ganz im Gegenteil eine Welt, nach der wir uns sehnen. Sonst könnten weder Reiseveranstalter ähnlichen Motiven werben, noch Disney die eskapistischen Bedürfnisse des globalen Kinopublikums damit befriedigen. Der Orient ist und bleibt ein Sehnsuchtsort – jedenfalls für den Westen. Und das kann man beim besten Willen nicht als negative Einstellung werten.
Im Übrigen ist dieser Film so überdreht, dass es nicht mehr nur klischeehaft erscheint, sondern zugleich die augenzwinkernde – um nicht zu sagen: mit dem Zaunpfahl winkende – Parodie des orientalistischen Klischees. In der neuen Version mit den echten Schauspielern merkt man es auch daran, dass diese nicht nur ihre Rollen, sondern stets auch sich selbst spielen: etwa Will Smith als rappender Flaschengeist.
Kommt hinzu, dass Aladdin ja nicht nur Held und Sympathieträger der Geschichte ist, sondern schon seinem Namen nach unverkennbar Muslim und Araber. Mag man ihm, wie Kritiker sagen, auch die Verhaltensweisen eines weißen amerikanischen Jugendlichen andichtet haben, er bleibt der Held einer fiktiven Welt, in der niemand über Arabern und Muslimen steht. Ein Rassismus, der sich dieser Geschichte bedient, stößt daher mit dem Kopf ziemlich schnell an die Decke.
Einen wunden Punkt getroffen
Dennoch trifft die Kritik von CAIR einen wunden Punkt, indem sie darauf hinweist, dass der Aladdin Stoff an und für sich bereits mit rassistischen und orientalistischen Stereotypen aufwartet. Aladdin lebt gemäß der ursprünglichen Fassung in China, und der böse Zauberer, der in dem Film (anders als in der Galland-Version) mit dem bösen Wesir verschmilzt, ist Afrikaner. Zweifellos versteckt sich darin ein Rassismus, denn weder die Araber, noch die Europäer des 18. Jahrhunderts hatten eine hohe Meinung von Schwarzafrikanern. Auch die Juden kommen übrigens in der Originalversion schlecht weg.
Der Rassismus, der also wie in vielen alten Stoffen auch in diesem wirksam ist, ist kein spezifisch westlicher, orientalistischer, sondern ebenso ein arabischer und muslimischer. Damit müssen wir zwar zugestehen, dass es Rassismus im Aladdin-Stoff gibt; aber eben auch dass dieser kein Spezifikum der westlichen Kultur ist, selbst dann nicht, wenn eines Tages herauskommt, dass die Geschichte eine bloße Erfindung Gallands ist. Denn rassistische Vorbehalte und Stereotype gegen Afrikaner und Juden weist die arabische und islamische Geschichte zur Genüge auf; und sie finden sich auch in jenen Geschichten von "Tausendundeine Nacht", die eindeutig arabische Quellen haben.
Die Aladdin-Verfilmung scheint daher nicht der richtige Anlass, um mit großen kulturkritischen Kanonen auf Hollywood zu schießen. Stattdessen sollten wir uns zu fragen, wieviel Ambiguitätstoleranz wir womöglich schon verloren und was zwei Jahrzehnte Kampf gegen den Terror mit uns gemacht haben, wenn wir einen solchen Film als Anlass für eine Gewissensprüfung nehmen.
So unangenehm Rassismus und Stereotypen in der Kunst immer ist, scheint es doch sinnvoller, den real existierenden Rassismus in unserem Alltag zu bekämpfen, statt denjenigen aus alten Geschichten.
Stefan Weidner
© Qantara.de 2019
Stefan Weidner ist Islamwissenschaftler. Demnächst erscheint von ihm: "1001 Buch. Die Literaturen des Orients", bei Edition Converso.