Den Nazis entkommen, in Kairo erfolgreich
Jahrzehntelang war Brigitte Schiffers inspirierende Lebensgeschichte wenig bekannt. Das änderte sich, als der deutsche Musikwissenschaftler Matthias Pasdzierny ihre Briefwechsel mit führenden Komponist:innen ihrer Zeit wiederentdeckte. Für seine Doktorarbeit war er auf der Suche nach Informationen über den Lebensweg deutscher Komponist:innen, die erst vom Nazi-Regime ins Exil getrieben wurden und später zurückkehrten.
2017 veröffentlichte Pasdzierny Schiffers Briefe auf Deutsch: „Es ist gut, dass man überall Freunde hat“. Vier Jahre später folgte eine arabische Ausgabe mit dem Titel „Brigitte Schiffers Briefe aus Kairo 1935-1963" (بريجيته شيفر.. رسائل من القاهرة 1935-1963), die sich auf Schiffers Leben in Ägypten ab 1935 konzentriert.
Qantara: Matthias Pasdzierny, was motivierte Sie, Schiffers Briefe zu veröffentlichen?
Matthias Pasdzierny: Wir haben durch ihre Briefwechsel mit berühmten Komponist:innen und Professor:innen immer mehr über Brigitte Schiffers Leben erfahren. Im Archiv der Berliner Universität der Künste fanden wir zum Beispiel Briefe an John Cage, Pierre Boulez, Iannis Xenakis. Während ich diese Briefe redaktionell bearbeitete, fand ich heraus, dass sie ein Streichquartett komponiert hatte. Im Jahr 1944 gewann sie mit diesem Quartett einen Kompositionswettbewerb in Kairo, ihrer neuen Heimat. In Kairo machte sie Karriere und leitete ab 1940 die staatliche Musikhochschule für Frauen. Ich erfuhr auch, dass sie 1950 als erste Frau bei der Internationalen Sommerakademie für Neue Musik in Darmstadt eine Rede hielt, dem damals wichtigsten Musikfestival in Deutschland. Sie sprach über neue Genres der ägyptischen Musik.
Auch persönlich gibt es Verbindungen: Schiffer studierte in den 1930er Jahren Komposition an der Berliner Musikhochschule. Heute heißt sie Berliner Universität der Künste und ich unterrichte dort. Im Laufe meiner Forschung nahm ich Kontakt zu Schiffers Patensohn Rolf Hickmann auf. Er lebt in London und stellte mir viel Material zur Verfügung, unter anderem ihre privaten Sammlungen, Noten und Fotos.
Wie hat sie es geschafft, von der verfolgten Migrantin zur Leiterin von Ägyptens bester Musikinstitution zu werden? Und das in nur wenigen Jahren?
Schiffer wurde 1909 in Berlin in eine deutsch-jüdische Familie geboren. Nach dem Tod ihres Vaters heiratete die Mutter Curt Oelsner, einen Textilhändler aus der Schweiz. 1923 zogen sie nach Alexandria, wo Schiffer ihre Schulbildung abschloss.
Dort lernte sie etwas Arabisch und, was für ihr späteres Leben wichtiger war, wurde Teil der kosmopolitischen Szene des Landes. 1930 kehrte sie erst einmal nach Berlin zurück, um Musikwissenschaften und Komposition zu studieren. 1932 besuchte sie in Ägypten den Kongress der Arabischen Musik, der von König Fuad I. ausgerichtet wurde. Auf dem Kongress lernte sie viele berühmte Komponist:innen, Musikwissenschaftler:innen und Musiker:innen aus arabischen Ländern und Europa kennen.
Ihre Doktorarbeit schrieb Brigitte Schiffer über die Musik der Oase Siwa im Westen des Landes. Sie verbrachte dort zwei Jahre, bevor sie 1934 in Berlin ihre Ergebnisse aufschrieb. Ein Jahr später zog sie, auf der Flucht vor den Nazis, wieder nach Ägypten und brachte zeitgenössische europäische Musik mit, beispielsweise Arnold Schönberg. Sie begann, an der staatlichen Musikhochschule für Frauen zu unterrichten und wurde sechs Jahre später zur Direktorin.
Schiffer kam 1935 mit ihrem ersten Ehemann, Hans Hickmann, nach Ägypten. Er war in Deutschland gegen das Nazi-Regime aktiv gewesen, in Kairo unterrichtete er ebenfalls Musik. Wie lernten sie sich kennen?
Sie studierten in Berlin zusammen und verliebten sich. 1938 heirateten sie auf Zypern. Zusammen reisten sie in die Oase Siwa, wo Hickmann eine verrückte Theorie entwickelte – er sah Siwa als Schlüsselloch, als Fenster zum antiken Ägypten; als einen Ort, wo man die Musik der Pharaohs hören kann. Parallel zu seiner Forschung zu ägyptischer Musik in der Antike katalogisierte Hickmann Musikinstrumente für das Nationalmuseum in Kairo.
Nach der Trennung von Hickmann zog Brigitte Schiffer mit Oswald Burchard zusammen. Auch er war vor den Nazis geflohen, er segelte 1933 auf der privaten Jacht seiner Familie von Hamburg nach Alexandria. In Kairo wurde er zum Antiquitätenhändler und war in den 1940er Jahren eine bekannte Persönlichkeit. Die südafrikanische Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer (1923-2014) schrieb sogar einen Roman über ihn.
Die Arabistin, die niemand kennt
Hedwig Klein arbeitet in der Nazi-Zeit an einem Wörterbuch, mit dessen Hilfe Hitlers Schmähschrift ins Arabische übersetzt werden soll. Geholfen hat es der Arabistin nicht: Klein wird 1942 in Auschwitz ermordet. Das Wörterbuch aber ist bis heute ein Renner – ohne Verweis auf das Schicksal Kleins. Von Stefan Buchen
Was machte Ägypten für jüdische Musiker:innen und Komponist:innen attraktiv, die von den Nazis verfolgt wurden?
In den 1930er Jahren kamen viele Europäer:innen nach Ägypten. Es war kosmopolitisch und hatte stark kolonial geprägte Viertel. Wenn die Künstler:innen ankamen, fanden sie Strukturen vor, die sie an europäische Städte erinnerten. Kairo hatte pulsierende Viertel, in denen viele jüdische und nichtjüdische Migrant:innen aus Deutschland, Italien, Frankreich und dem Vereinigten Königreich lebten.
Für einige Jahre betrieben Schiffer und Burchard einen Kultursalon am Ufer des Nils. Sie hatten ein Gästebuch voller Fotos, Zeichnungen und anderer Einträge, die während ihrer Veranstaltungen, Partys und Konzerte entstanden. Die Designerin des auf Arabisch erschienenen Buches, Katharina Marszewski, nutzte das Gästebuch als Grundlage für die Gestaltung der Briefsammlung.
Inwiefern beeinflussten die Migrant:innen die musikalische Bildung in Ägypten?
Schiffers Briefe an ihre deutschen Kolleg:innen zeigen, wie sie versuchte, das Bildungssystem in ihrer Rolle als Direktorin der staatlichen Musikhochschule für Frauen in Ägypten, aus dem später der Fachbereich für Musikerziehung an der Universität Helwan hervorging, zu verbessern.
Während meiner Aufenthalte in Kairo besuchte ich das Institut in Zamalek. Schiffers Portrait ziert die Wand im Eingangsbereich, als erstes einer Reihe von Fotos ehemaliger Direktor:innen. Viele brachten ihrer Arbeit Anerkennung entgegen und erinnern sich an sie mit großem Respekt und Dankbarkeit. Ihre Forschung zu Siwa hinterließ ebenfalls einen tiefen Eindruck. Ihre Aufnahmen aus den frühen 1930er Jahren sind heute eine wertvoller Zugang zu Ägyptens musikalischem Erbe.
Nachdem Schiffer nach Ägypten geflohen war, schrieb sie ihrem ehemaligen Professor Heinz Tiessen in Berlin weiterhin Briefe. Was konnten Sie aus den Briefen herauslesen?
Zu Beginn standen ihre Briefe im Licht einer Lehrer-Schülerinnen-Beziehung, doch über die Jahre entstand eine enge Freundschaft. Brigitte Schiffer besuchte Berlin nach 1945, von Tiessen erhielt sie Neuigkeiten über die deutsche Musikszene und auch Rat für den Aufbau ihrer eigenen Institution.
Und doch blieb die Beziehung fragil. Tiessen blieb in der Nazizeit in Deutschland und war Professor, während sie als Jüdin das Land verlassen musste. Während des Krieges konnten sie sich jahrelang nicht schreiben. In ihren späteren Briefen berührten sie die heiklen Themen zwischen den Nazis und den Juden nur zwischen den Zeilen.
Während ihrer Zeit in Ägypten versuchte Schiffer, ihre Musikpartituren in Deutschland zu veröffentlichen. Hatte sie Erfolg?
Sie hoffte wahrscheinlich darauf, dass ihr Streichquartett veröffentlicht würde. Doch das kam nicht zustande. Viel später, 2023, veröffentlichten wir dann ihr Stück zum ersten Mal.
1960 gewann Brigitte Schiffer ihre Klage gegen die deutsche Regierung und damit eine Wiedergutmachung für Schäden an ihrer professionellen Karriere. Was bedeutete das für sie?
Sie beschrieb ihre Reaktion auf die sogenannte Wiedergutmachung in einem Brief: „Es fühlt sich sehr komisch an, das eigene Leben in Geldbeträgen berechnet zu sehen“. In ihrem Fall zahlte es sich aus, dass sie 1935 ihr Doktorat abgeschlossen hatte. Das westdeutsche Wiedergutmachungssystem maß Universitätsabschlüssen einen hohen Wert bei und bezahlte dementsprechend viel.
Heinz Tiessen formulierte ein Empfehlungsschreiben für ihren Antrag, in dem er Schiffer als eine seiner talentiertesten Student:innen bezeichnete. Er wiederum nutzte nach 1945 seine Beziehung zu ihr in seinem eigenen Denazifizierungsprozess. Er versuchte, den Eindruck zu vermitteln, er habe jüdische Studierende in der Nazizeit geschützt. Unterm Strich ermöglichte das Geld der Bundesrepublik Deutschland Brigitte Schiffer, sich nach ihrem Abschied aus Ägypten ab 1960 in London eine neue Existenz aufzubauen.
Warum entschied sie sich für London und nicht für Berlin?
Die meisten Europäer:innen, die nach Ägypten geflohen waren, verließen das Land bald nach Kriegsende 1945. Das Gästebuch ihres Kultursalons am Nil zeigt, dass viele Abschiedspartys für Leute gegeben wurden, die zurück nach Europa oder in die USA gingen. Die aufregende kosmopolitische Atmosphäre verschwand größtenteils mit ihnen.
Ab 1952, mit der Präsidentschaft Gamal Abdel Nassers die bis 1970 andauerte, wuchs der arabische Nationalismus. In dieser Zeit wurde Brigitte Schiffers Leben in Kairo als deutsch-jüdische Frau zunehmend schwieriger. Ende der 1950er Jahre wurde das neue Konzerthaus der Stadt erbaut, Schiffer war in dessen Anfänge involviert. Mit der Zeit driftete der Betrieb dort immer mehr in eine nationalistische und zunehmend engstirnige Denkweise ab. In diesem Kontext wurde das Unterrichten von Musik für Schiffer immer weniger interessant.
Als sie sich um 1960 entschied, Kairo zu verlassen, hatte sie drei Optionen: Berlin, London, oder Zürich. Ihr Partner, der Antiquitätenhändler, musste viel reisen, was im Berlin während des Kalten Krieges schwer möglich gewesen wäre. Hinzu kam die emotionale Belastung der möglichen Rückkehr in ihre alte Heimat. Zürich war zwar sehr international, war aber in Hinsicht auf neue Musik nicht interessant. So zogen sie 1963 nach London, wo sie Journalistin wurde und über die lebhafte neue Musikszene des Landes berichtete.
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