Riskante Reise ohne Altersgrenze
Es ist sieben Uhr morgens an einem klaren Tag in Algier. Nouara blickt aus dem Fenster ihrer Wohnung auf eine schmale Gasse und klagt: "Ich halte es hier nicht mehr aus.“ Die 65-Jährige will nur noch weg aus Algerien. Dafür würde sie sogar in eines der Boote steigen, die Migranten über das Mittelmeer nach Spanien schleusen. Eine Überfahrt mit oft tödlichem Ausgang. "Jede Hoffnung, die ich in dieses Land je hatte, habe ich verloren“, sagt sie.
Nouara, die ihren vollen Namen nicht nennen möchte, ist Witwe. Ihr Ehemann Foudhil erkrankte 2020 an Corona und starb als einer von offiziell mehr als 6.800 Corona-Toten in Algerien. "Trotz seines Alters war er in guter Verfassung – gesund und munter. Er starb über Nacht an akutem Sauerstoffmangel“, erklärt die Witwe.
"Ich lebe von Almosen“
Nouara hadert mit ihrem Schicksal. Der alte Holztisch in ihrem Wohnzimmer ist von Papieren übersät: Antragsformulare für ein Visum und Kopien ihrer Geburtsurkunde. Das Paar hatte keine gemeinsamen Kinder, aber ihr Mann Foudhil hatte Kinder aus einer früheren Ehe. "Die Kinder meines Mannes halten mir seine Rente vor. Ich lebe jetzt von Almosen. Falls mein Visumsantrag für Frankreich abgelehnt wird, verkaufe ich meine kleine Wohnung und besteige ein Boot.“
"Natürlich weiß ich, dass das verboten und gefährlich ist“, fügt Nouara hinzu. "Aber ich suche nach einem Ort, wo ich den Rest meines Lebens in Würde verbringen kann.“
Nach Angaben der spanischen Behörden nutzten zwischen Januar und Dezember 2021 mindestens 10.000 Algerier diese Route und gingen an der spanischen Küste an Land – 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Ausgangspunkt sind meist die Städte an der algerischen Westküste wie Oran, Chlef und Magna, vor allem im Sommer, wenn das Meer ruhiger ist. Die kürzeste Entfernung zwischen Algerien und der spanischen Küste beträgt 150 km – zwischen Oran und Almeria.
Die Schleuser verlangen zwischen 2.000 und 7.000 Euro pro Person. Je höher der Preis, desto stärker der Motor der Boote und desto schneller die Überfahrt, die zwischen drei Stunden und drei Tagen dauern kann.
Harragas nennen sich Migranten, die mit Booten über das Mittelmeer fahren und versuchen, illegal nach Europa einzuwandern. Sie verbrennen ihre Ausweispapiere, um bei einer möglichen Festnahme in Europa der Rückführung ins Heimatland zu entgehen.
Die illegale Einwanderung hat in letzter Zeit zugenommen, trotz eines algerischen Gesetzes aus dem Jahr 2009, wonach Personen, die von der Küstenwache festgenommen werden, mit sechs Monaten Freiheitsentzug bestraft werden können. Schleusern drohen bis zu fünf Jahren Haft.
Lösungen gesucht
Angesichts der stark steigenden Zahlen gründete die algerische Regierung 2018 die "Nationale Vereinigung zur Sensibilisierung der Jugend über die Gefahren der illegalen Migration“ (ANSJIC). Mittlerweile sind mehr als 20 nationale Organisationen, Beamte des Innenministeriums, lokale Behörden und Experten an der Suche nach Lösungen für das Problem beteiligt.
ANSJIC gilt als eine wegweisende Initiative. Die Organisation informiert in den Küstenstädten Algeriens auf Versammlungen und in Workshops Menschen über die Gefahren der illegalen Migration.
"Wir wollen über die Gefahren aufklären, denen sich Harragas aussetzen. Und wir wollen das Land vor dem Ausbluten bewahren“, so Samir Zoulikha, Vorsitzender von ANSJIC. "Hierzu arbeiten wir mit Schulen, Moscheen, Sportvereinen und betroffenen Familien zusammen.“
Auch Nabil, der nur mit seinem Vornamen genannt werden möchte, denkt über eine Auswanderung nach. Nach seinem Abschluss am Nationalen Institut für Meereswissenschaften und Küstenentwicklung hat er bislang keine Stelle in seinem Fachgebiet gefunden und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch.
Aus Verzweiflung in die illegale Migration
"Seit vier Jahren bewerbe ich mich auf verschiedene Stellen – ohne Erfolg“, erzählt Nabil, der mittlerweile in den 30ern ist.
Er ist sichtlich verzweifelt. "Die Hoffnungen, die ich in die Entwicklung der Küstengebiete gesetzt hatte, sind zerronnen. Das Meer und seine Rätsel haben mich stets fasziniert. Doch jetzt braucht meine Mutter dringend Geld für eine Dialyse“, so Nabil. "Hier sehe ich keine Zukunft. Als einzige Hoffnung für mich und meine Familie bleibt mir nur die Auswanderung.“
Zoulikha konnte Nabil überzeugen, an einer ANSJIC-Konferenz teilzunehmen. Dort sollen "junge Freiwillige darin geschult werden, wie man auf Menschen zugeht, die illegal auswandern wollen. Wir wollen diesen Menschen nicht nur die Gefahren bewusst machen, sondern ihnen auch zuhören und Lösungen anbieten“, sagt er.
"Seine Mitwirkung würde der Konferenz eine neue Dynamik verleihen“, so Zoulikha. "Unsere bisherigen Veranstaltungen richteten sich hauptsächlich an die Zivilgesellschaft und die Behörden. Ein direkter Dialog zwischen den Verantwortlichen in den Behörden und den betroffenen Jugendlichen könnte zu praxisnahen und tragfähigen Lösungen führen.“
Nouara hat einen Termin wegen eines Visums in der französischen Botschaft. Sie ist aufgeregt. "Nach der Ankunft in Frankreich will ich nach Belgien weiterreisen. Meine Cousine hat mir angeboten, bei ihr im Haus zu wohnen. Ich will versuchen, einen Job zu finden oder zumindest ehrenamtlich zu arbeiten. Ich bin ja Lehrerin und kann sicherlich irgendwo helfen.“
Allerdings hat Frankreich kürzlich entschieden, die Zahl der Visa für Menschen aus Algerien, Marokko und Tunesien zu halbieren, da sich die nordafrikanischen Regierungen weigern, illegale Migranten zurückzunehmen.
"Wenn Plan A nicht funktioniert, bleibt mir doch nur noch die illegale Migration“, sagt Nouara.
Zineb Bettayeb
© Institut für Auslandsbeziehungen 2022
Dieser Artikel wurde zuerst am 29. April 2022 auf der Website des Guardian veröffentlicht.
Zineb Bettayeb ist eine algerische IT-Spezialistin und ehemalige Kulturjournalistin. Über ihr Engagement in zivilgesellschaftlichen Projekten in Algerien nahm sie 2019 am Ifa CrossCulture Programm teil, wo sie drei Monate lang mit der Deutschen UNESCO-Kommission zusammenarbeitete.