Europas Migranten sind Teil der Lösung
Schätzungsweise 23 Millionen und damit rund fünf Prozent der fast 450 Millionen Einwohner der Europäischen Union wurden außerhalb ihrer Grenzen geboren. Das macht sich am deutlichsten in Kultur und Sport bemerkbar.
In der englischen Fußballmannschaft, die vor wenigen Wochen im EURO 2020-Finale stand, hatten nur drei Spieler keinen Migrationshintergrund. Und am Eurovision Song Contest im Mai nahmen zwei Flüchtlinge teil. Einer von ihnen war der aus dem Kongo stammende Sänger Tusse, der Schweden vertrat.
Offensichtliche Erfolgsgeschichten
Der Gesundheitssektor ist ein weiteres gutes Beispiel für die Bedeutung von Migranten. Was wäre Europa heute ohne Uğur Şahin und Özlem Türeci, das Ehepaar, das BioNTech, den Hersteller des wohl erfolgreichsten Impfstoffs gegen COVID-19, mitbegründet hat? Diese Kinder türkischer Einwanderer kamen schon in jungen Jahren nach Deutschland. Ohne sie und ohne die vielen Ärzte und Krankenschwestern aus Nicht-EU-Ländern wäre es Europa in der Corona-Krise viel schlechter ergangen.
Doch trotz solcher offensichtlichen Erfolgsgeschichten bleibt Einwanderung in den meisten europäischen Ländern ein kontroverses Thema. Die Befürchtung ist weit verbreitet, dass Migranten eine Bedrohung darstellten, dass sie mit der europäischen Lebensweise unvereinbar und schwer zu integrieren seien, dass sie den Menschen Arbeitsplätze wegnähmen und Druck auf die Löhne ausübten.
Mangelnde Integration ist jedoch nicht nur bei Neuankömmlingen ein Problem. Auch Familien der zweiten und dritten Generation haben immer noch Schwierigkeiten, ihren Platz in den hiesigen Gesellschaften zu finden. Einige nehmen ihr Gastland nicht an, bleiben allein in ihren eigenen Gemeinschaften und werden so zum Zankapfel. Wobei die Forderungen nach einer härteren Haltung gegenüber Einwanderern von populistischen Kräften verstärkt werden.
Kann Europa seine Augen verschließen?
Zugleich bleiben entscheidende Fragen offen: Kann Europa, das in der ganzen Welt als Festung der Menschlichkeit gilt, aus Angst vor einer "Überflutung" durch Einwanderer die Augen vor dem Leid der Menschen verschließen? Kann es sich leisten, dass Menschen über einen längeren Zeitraum in Lagern und unter unmenschlichen Bedingungen eingesperrt werden? Akzeptiert die EU das Zurückdrängen von Asylbewerbern an ihren Außengrenzen, wenn ihre Grenz- und Küstenwache möglicherweise sogar an solchen Aktionen beteiligt ist? Und sollte Europa mit autoritären Regimen zusammenarbeiten, um die Migrationsströme zu steuern?
Es gibt keine einfachen Antworten. Dennoch lag der Schwerpunkt der EU-Entscheidungsträger lange Zeit allein auf der Reduzierung des Zustroms neuer Migranten und nicht auf der Integration derer, die bereits hier sind. Ob dies gelingt, hängt davon ab, dass die Migranten Zugang zu einer guten Ausbildung und eine Zukunftsperspektive haben. Das mag einfach klingen, ist es aber in der Praxis nicht. Oft bieten die Aufnahmeländer den Neuankömmlingen zwar eine Starthilfe an, versäumen es aber, sie längerfristig zu begleiten.
Die Integration wird weitgehend der nationalen Gerichtsbarkeit überlassen. Die EU-Institutionen geben zwar unverbindliche Empfehlungen ab und finanzieren Projekte, aber sie bestimmen nicht die Integrationspolitik. Dies bleibt das Vorrecht der Mitgliedstaaten, die sich weigern, Brüssel ein breiteres Mandat zu erteilen. Sie befürchten, dass die Einwanderungspolitik bald von Eurokraten diktiert werden könnte.
Qualifizierte Arbeitskräfte werden knapp
Es gibt jedoch einen guten Grund, warum sich die EU stärker engagieren sollte: die Wirtschaft. Die Menschen werden immer älter - das ist natürlich ein Grund zum Feiern, aber es hat seinen Preis. In den vergangenen zehn Jahren ist die durchschnittliche Lebenserwartung der Europäer um 2,7 Jahre gestiegen. Das schafft nicht nur Probleme für die Altersversorgung, sondern auch für den Lebensstandard. Qualifizierte Arbeitskräfte werden in einigen Bereichen knapp, der Gesundheitssektor ist nur ein Beispiel dafür.
Die Bildung und Ausbildung von Einwanderern und die Vermittlung demokratischer Werte werden sie zu geschätzten Bürgern ihrer neuen Länder machen - oder zu Botschaftern Europas in ihren Herkunftsländern, wenn sie dorthin zurückkehren (müssen). Dies wiederum wird zweifellos die politische und wirtschaftliche Position Europas international stärken.
Zuwanderer an Politik beteiligen
Die in der Bevölkerung weit verbreitete Sorge, dass radikale Migranten, sogar Terroristen, nach Europa eindringen könnten, muss ernst genommen werden. Die Bürgerinnen und Bürger Europas wollen nicht, dass fremde Konflikte hierher importiert werden und ihre Freiheiten ausgehöhlt werden.
Ziel muss es daher sein, dass sich die Zuwanderer aktiv an der demokratischen Politik ihrer Aufnahmeländer beteiligen. Die Förderung ihres Engagements an der Basis sollte Teil einer guten Integrationspolitik und genauso wichtig sein, wie die Integration auf dem Fußballplatz.
Eine Neufokussierung ist erforderlich: Was wäre, wenn Migranten nicht nur als lästiges Problem, sondern als Teil der Lösung betrachtet würden? Eine langfristige Vision von Integration läge in Europas eigenem Interesse.
Michael Thaidigsmann
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Michael Thaidigsmann ist Journalist und Exekutivdirektor bei der Nichtregierungsorganisation EU Watch in Brüssel.