Verirrt und verführt
Wie überschaubar tragisch die Verhältnisse bei "Romeo und Julia" doch waren. Hier die Montagues, dort die Capulets, und dazwischen die Liebenden. Selbst bei Tony und Maria aus der "West Side Story" konnte man die Polarität der Welten in den Slums Manhattans noch begreifen. Hier die Sharks, dort die Jets – und die unversöhnlichen Fronten zwischen den ethnischen Milieus.
Da ist das Universum von Julian und Romea in Anna Kuschnarowas Jugendroman "Djihad Paradise" wesentlich komplexer. Das Universum ist komplexer und die Orientierungsversuche der jungen Menschen aus Berlin sind es ebenso.
Der Beginn der Geschichte ist bereits derart nervenaufreibend, dass man sich als Leser gezwungen sieht, das Buch regelrecht zu verschlingen, um zu erfahren, warum Julian und Romea so geworden sind, wie sie sich zu Beginn des Romans darstellen. Sie berichten von einem Augenblick ihrer unmittelbaren Gegenwart, bevor sie die sich immerhin über drei Jahre erstreckende Vorgeschichte abwechselnd in Rückblenden erzählen – in insgesamt acht Kapiteln, eins dramatischer als das andere.
Die Gegenwart auf den ersten Seiten des Buches ist dieselbe wie die auf den letzten. Berlin, Alexanderplatz, vier Tage vor Heiligabend. Menschengewühl. Hektik. Weihnachtsgedudel auf allen Kanälen. Julian Engelmann, der sich aus anfangs noch nicht näher genannten Gründen Abdel Jabbar Shahid nennt, steht vor dem Kaufhaus Alexa und weiß nur eins: „Bin hier, weil hier alles ist, was ich hasse.“
Sprenggürtel am Leib
Zur selben Zeit nähert sich ihm zufällig die Person, die noch vor ein paar Monaten die große Liebe seines Lebens gewesen war. Romea glaubte Julian tot und sieht ihn nun auf dem Alexanderplatz vor sich, in Hip-Hop-Klamotten, wie früher, aber mit eingefallenen Wangen und schweißnassem Gesicht. Und in diesem Augenblick erkennt sie: Er trägt einen Sprenggürtel am Leib. Er ist ein Selbstmordattentäter. - Schnitt.
Radikaler könnte er nicht sein, der Cliffhanger. 400 Seiten lang hängt man an der Klippe. Und das zu Recht. Dieses geschickte dramaturgische Konzept lässt die Leser die Geschichte zweier aus der Norm gefallener junger Menschen wirklich verstehen. Schließlich geht es der Autorin nicht um eine Aneinanderreihung von Actionkicks, sondern um die Erhellung des Werdegangs und der Motive von Julian und Romea. Schritt für Schritt.
Drei Jahre zuvor. Julian und Romea lernen sich in der Schule kennen. Er (18) ist ein unangepasster junger Rapper, Sänger in einer erfolglosen Hip-Hop-Band, und gibt sich absolut cool. Hinter der Fassade jedoch rumoren enorme Selbstzweifel. Die Familienverhältnisse sind eine einzige Katastrophe. Mutter abgehauen, Vater Säufer, arbeitslos – ein Leben am Abgrund, finanziell und emotional. Romea (16) hingegen kommt aus wohlhabendem Haus. Vater Architekt, Mutter Anwältin. Das Problem: Die Eltern nehmen sich so gut wie keine Zeit für die beiden Töchter.
Romea sieht das mit bitterem Sarkasmus, funktioniert aber in Familie und Schule. Bis sie Julian lieben lernt und mit ihm alle Brücken zum alten Leben abbrechen möchte, weil beide nur noch das "Graubraunanthrazit-Hässliche" (Romea) ihres Milieus wahrnehmen. Für sie beginnt damit eine Odyssee, zuerst gemeinsam, dann mehr und mehr getrennt. Vor allem ab dem Zeitpunkt, an dem sie sich entschließen, zum Islam überzutreten.
Einsame Antihelden
Hilfe und Geborgenheit finden sie ausgerechnet in einer Salafistengemeinde. Zwar gelingt es der (selbst)kritischen Romea rechtzeitig auszusteigen, Julian hingegen gerät immer mehr unter den Einfluss radikalislamischer Fanatiker und landet schließlich in einem pakistanischen Ausbildungslager für Gotteskrieger. Ein langer, steiniger Irrweg, der so nicht hätte beschritten werden müssen, wäre das soziale Milieu, an dessen Rand sich die jungen Liebenden bewegten, offener, freundlicher, an individuellen Perspektiven reicher gewesen. War es aber nicht.
Diesen erdrückenden Mangel an lebbarer Orientierung verknüpft Anna Kuschnarowa mit den Ängsten, Träumen und der riesengroßen Einsamkeit der beiden jungen Antihelden. Die Autorin, die sich in ihren Jugendbüchern häufig mit politischen Themen beschäftigt, lässt ihr fundiertes Hintergrundwissen über den Islam niemals schwarzweißmalend oder belehrend in die Handlung einfließen.
Zudem fühlt sie sich nicht nur in die schwankenden Gemütsverfassungen ihrer Protagonisten ein, sondern auch in die Szenesprache jugendlicher Outsider. Das macht die Dialoge manchmal derb, manchmal zärtlich-naiv, verleiht aber den Gedankengängen von Julian und Romea jene wirre Logik, die ihrem Stadium der Sinnsuche entspricht. Ein überaus spannender und erhellender Roman über die Sehnsüchte und Verführbarkeiten junger Menschen in einer unüberschaubar komplexen Welt.
Siggi Seuß
© Litrix.de 2014
Anna Kuschnarowa: "Djihad Paradise", Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim/Basel 2013, ISBN 978-3-407-81155-4, 416 Seiten