Tage des Zorns in Beirut
Tausende Libanesen haben sich auf dem Märtyrerplatz in Beirut versammelt. Sie sind gekommen, um von dem ermordeten Chef des Polizeigeheimdienstes, Wissam Al-Hassan, und seinem Begleiter Ahmad Sahyouni Abschied zu nehmen. Der 47-jährige Al-Hassan stand der Opposition nahe. Für viele war er ein Garant für Sicherheit in dem politisch instabilen Land. Er führte einen Sicherheitsapparat an, der weder der Hisbollah unterstand, noch von Syrien unterwandert war.
Viele Menschen auf dem Märtyrerplatz tragen die libanesische Fahne, andere halten Fahnen der Oppositionsparteien in die Höhe. Viele Redner treten auf - sie alle geben der libanesischen Regierung mit dem Sunniten Najib Mikati an der Spitze die Schuld für das Attentat. Dann greift Nadim Qutaisch zum Mikrofon. Der Fernsehjournalist und Sympathisant der sunnitischen und anti-syrischen Zukunftsbewegung stachelt seine Zuhörer auf. Er fordert die jungen Leute auf, zum Serail - dem Regierungssitz - zu gehen und Mikati zu stürzen.
Sturm auf den Regierungssitz
Was auf diesen Aufruf folgt, sind Zusammenstöße zwischen wütenden jungen Männern und Sicherheitskräften in der Nähe des Serails. Die Randalierer werfen Steine und Flaschen auf die Uniformierten. Die Armee antwortet mit Tränengas und Warnschüssen. Politische Führer versuchen, die Lage in den Griff zu bekommen: Im Fernsehen ruft Saad Al-Hariri, Führer der Zukunftsbewegung, seine Anhänger zur Ruhe auf.
Doch die meisten Menschen, die sich auf dem Märtyrerplatz versammelt haben, demonstrieren friedlich - wie etwa Abdalkarim. Er bezeichnet den Mord als Schock für alle ehrenwerten Menschen. Al-Hassan habe alle verfolgt, die die Sicherheit des Landes in Gefahr brachten: "Jeder Mensch, der sein Land liebt, sollte sich an dieser Demonstration beteiligen. Das ist eine nationale, menschliche und moralische Pflicht", sagt Abdalkarim.
Eine Gruppe von jungen Frauen, die ebenfalls auf dem Platz stehen, vertritt eine klare Position: Salma sagt, dass sie zusammen mit ihren Freundinnen gegen das Regime in Syrien und seine Anhänger im Libanon demonstriere: "Die Regierung soll stürzen, dann kommt eine neue Regierung und es wird besser."
Fahd Al-Khalil, der eine libanesische Fahne trägt, sagt fast resigniert: "Es reicht, wir haben die Nase voll von Zerstörung, vom Töten und vom gegenseitigen Hass!"
Brennende Mülltonnen und leere Straßen
Drei Tage nach dem Mord an Wissam Al-Hassan wirkt Beirut am Montag (22.10.2012) immer noch wie gelähmt. Viele Schulen haben geschlossen. Die Hauptverkehrsstraßen sind auffällig leer. Immer wieder kam es in den vergangenen Tagen in verschiedenen Vierteln im Westen der Stadt zu Protesten. Aufgebrachte Anhänger der Zukunftsbewegung blockieren Straßen, setzen Reifen in Brand oder zünden Mülltonnen an.
Das Attentat auf den Chef des Polizeigeheimdienstes geschah zweieinhalb Monate nach der Verhaftung von Michel Samaha. Der ehemalige libanesische Minister wird verdächtigt, im Auftrag des syrischen Regimes Sprengstoffanschläge im Libanon geplant zu haben. Verantwortlich für die Verhaftung war Wissam Al-Hassan. Für die libanesische Opposition, die Allianz des 14. März, die aus sunnitischen und christlichen Kräften besteht, ist klar: Die Auftraggeber für das Attentat an Al-Hassan sitzen in Damaskus. Die politische Verantwortung lastet die Opposition Ministerpräsident Mikati an und fordert vehement seinen Rücktritt. Er habe das Klima geschaffen, das diesen Mord möglich gemacht habe, sagen sie.
Wie soll es weitergehen?
Doch die Opposition, insbesondere die Zukunftsbewegung, steht unter Druck. Um bei ihren Anhängern politisch glaubwürdig zu bleiben, kann sie nach diesem Mord nicht zur Tagesordnung übergehen. Aber was nach dem geforderten Rücktritt folgen soll, ist unklar. Die Opposition verfügt derzeit nicht über die Mehrheit, die zur Bildung einer neuen Regierung nötig ist.
Die führenden Kräfte in der Regierung, die schiitischen Hisbollah und die Amal-Bewegung, halten sich auffällig zurück. Laut Berichten libanesischer Zeitungen haben sie die Anweisung, sich nicht provozieren zu lassen. So heißt die oberste Devise der pro-syrischen Kräfte im Libanon: Ruhe bewahren.
Die Hoffnung ruht nun auf Staatspräsident Michel Suleiman. Suleiman, der bei allen politischen Richtungen Glaubwürdigkeit genießt, hält an Ministerpräsident Najib Mikai fest. So bleibt die Regierung vorerst im Amt. Und alle Beteiligten hoffen, dass sich während des islamischen Opferfestes am Wochenende die Gemüter beruhigen werden.
Mona Naggar
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Qantara-Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de