Für Muslime gilt die Schuldvermutung
Als ob Europa je frei von Rassismen und Fremdenfeindlichkeit gewesen wäre, als ob es nie Diskriminierungen von Minderheiten gegeben hätte, schaffen es rechte Parteien, rechte Blätter und rechte Kommentare erfolgreich, den grassierenden Antisemitismus dem Islam und seinen Angehörigen in die Schuhe zu schieben.
Das Argument der muslimischen Judenfeindlichkeit gehört inzwischen zum Basis-Arsenal der Abwehr von Neuzuwanderung, es wird benutzt von Pegida und Identitären, von Islam-Abtrünnigen, den immer gleichen Apologeten der so genannten Islamkritik und nicht zuletzt im Wahlkampf.
Zunehmend wird es auch missbraucht von Leuten, die sich als besorgte Bürger und Bürgerinnen wahrnehmen, die vorgeblich zur Verteidigung christlicher oder abendländischer Werte schreiten und tatsächlich um ihre sozialstaatlich erkämpften Sicherheiten und Privilegien bangen. Hinter solchen Argumenten versteckt die Neidgesellschaft ihre Angst, dass zu viele Mittel aufgewendet werden für die Geflüchteten, und dass immer weniger übrig bleibt für diejenigen, die diese Besorgnisse äußern.
Es sind die gleichen Kräfte, die schon gegen Kopftücher und Minarette wettern, Burkaverbote fordern, "dem Islam" eine Reform verordnen, den Untergang des Abendlands voraussagen und geschlechtergerechte Sprache verweigern, die sich nun auf dieses Thema eingeschworen haben, so als ob muslimische Zuwanderer die Judenfeindlichkeit im Handgepäck eingeschleppt hätten.
Antisemitismus als westlicher Kulturexport
Die Strategie ist bekannt. Vor einigen Jahren schritt man beherzt zur Scheinverteidigung muslimischer Frauen, die gegen ihren Willen von ihren Kopftüchern und ihren Männern befreit werden sollten. Und das half prima beim Ignorieren von artverwandten Missständen hierzulande, etwa den Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern bei Postenbesetzungen, Löhnen und der Verteilung von Haushaltsarbeit.
So sammeln sich die verschiedenen reaktionären Kräfte jetzt zur Verteidigung des Judentums gegen muslimische Anfeindungen und lenken dabei wunderbar von den Missständen in den eigenen Reihen ab, so als ob es keine braune Vergangenheit gäbe, keine Burschenschaften, keine Gedenkfeiern zu Hitlers Geburtstag und keine antisemitischen Ausfälle im Umfeld politischer Parteien.
Besonders paradox in dem Kontext ist der Umstand, dass Antisemitismus als westlicher Kulturexport zu sehen ist, worauf Islamwissenschaftler wie Reinhard Schulze immer wieder hinweisen. In mehrheitlich muslimischen Gebieten waren antisemitische Haltungen bis in das späte 18. Jahrhundert hinein eher unbekannt.
Westlicher Antisemitismus für die islamische Welt
Diffamierungen und Ausschreitungen sind vorgekommen, aber es waren regional begrenzte Konflikte – nicht zu vergleichen mit den Übergriffen und Pogromen, die Juden in Europa durch die Jahrhunderte hindurch zu ertragen hatten. Judenfeindliche Textstellen, die sich im Koran finden lassen, werden in den Rechtsschulen im historischen Kontext gedeutet, ihnen wird von muslimischen Theologen keine zeitlose Gültigkeit zugeschrieben.
Dies änderte sich erst mit dem westlichen Kulturimperialismus, wie er mit Napoleons Ägyptenfeldzug 1798 begann und im Kolonialismus fortgesetzt wurde. Nun gelangte auch der Antisemitismus westlicher Prägung nach Nordafrika und Nahost, und die altbekannten antijüdischen Verschwörungstheorien begannen sich auszubreiten.
Verstärkt wurden diese Tendenzen noch einmal nach Gründung des Staates Israel, die aus arabischer Perspektive auf arabischem Territorium erfolgte und eine große Flüchtlingsbewegung, vor allem in die umliegenden Staaten, nach sich zog.
Kritik an Israels Politik ist noch kein Antisemitismus
All diese historischen Entwicklungen bedeuten aber nicht, dass die in den letzten Jahren nach Europa Geflüchteten ausnahmslos einem stupiden Antisemitismus huldigen. Tatsächlich stammen viele von ihnen aus Ländern, die mit dem Staat Israel seit seinem Bestehen in Feindschaft leben. Aber Kritik an einer Regierung ist nicht das Gleiche wie eine ablehnende Haltung gegenüber einer Religion und all ihren Angehörigen.
Kritik an Israels Politik ist noch kein Antisemitismus. Und wo Antisemitismus vorliegt – sei es von alteingesessenen oder neu zugewanderten Teilen der Bevölkerung –, wären Aufklärungskampagnen und Bildungsmaßnahmen die Lösung und nicht pauschale Dämonisierungen von ganzen Menschengruppen.
Es wäre angebracht, alle antisemitischen Äußerungen und Handlungen zu bekämpfen, aus welcher düsteren Ecke sie auch immer kommen. Soziografische Faktoren wie Religion, Ethnie, Geschlecht, Sprache, Nationalität, Herkunft und Bildungsniveau derjenigen, die sie tätigen, sind dabei gänzlich gleichgültig.
Ingrid Thurner
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Ingrid Thurner ist Ethnologin, Publizistin und Mitglied der Initiative Teilnehmende Medienbeobachtung am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien.