Schwarze Stunde des Liberalismus
Ägyptens liberale Kräfte haben die im Entstehen begriffene, wacklige Demokratie des Landes zum Erliegen gebracht, indem sie die Armee wieder an die Macht brachten. Zu ihrer Kurzsichtigkeit gesellt sich Schamlosigkeit, insofern führende Liberale Posten in einer Marionettenregierung unter der Knute der Generäle angenommen haben. Durch den De-facto-Coup steht Ägypten wieder ganz am Anfang: eine Allianz zwischen dem Militär und selbsternannten Liberalen, deren Recht auf diese Bezeichnung nun umso zweifelhafter ist.
Diese Ereignisse entlarven die Fehler und Verfehlungen aller Teile des politischen Spektrums in Ägypten. Der Sieg der Muslimbruderschaft in freien und fairen Wahlen im Januar 2012 (für das Parlament) und Juni 2012 (für das Präsidentenamt) enttäuschte ihre Gegner zutiefst, insbesondere Ägyptens Liberale, Nationalisten und Linke – denen es misslungen war, ihre Kräfte gegen genau dieses Ergebnis zu vereinen – sowie die vielen jungen Menschen, deren Entschlossenheit dabei geholfen hatte, den Abgang Husni Mubaraks im Februar 2011 zu erzwingen. Die "fulul" (Überreste des alten Regimes) und das Militär waren natürlich ebenfalls alarmiert.
Nach nur einem Jahr hatte sich die politische Landschaft allerdings schon wieder geändert. Die siegreiche Muslimbruderschaft erwies sich in beinahe jeglicher Hinsicht als regierungsunfähig. Ihre Entscheidungen und Einstellungen waren amateurhaft, selbstbezogen, dünkelhaft, reaktionär und sektiererisch. Ihre Bilanz zeigte der ägyptischen Öffentlichkeit definitiv, wie sinnlos die Behauptung der Islamisten war, dass ihre Heilsbotschaft ein Allheilmittel für alle Probleme sei.
Die verpasste Chance
Ganz kaltblütig betrachtet, war dies das beste Ergebnis, das ein ägyptischer oder arabischer Liberaler sich erhofft haben kann. Immerhin war über Jahrzehnte hinweg keine Ideologie (oder sogar Gruppe von Ideologien) in der Lage, das einfache, aber eingängige Mantra "Der Islam ist die Lösung" aus den Herzen und Köpfen des arabischen Volkes zu verdrängen. Eine historische Chance ergab sich schließlich mit dem arabischen Frühling von 2010 bis 2011, der es den Menschen zum einen erlaubte, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, und zum anderen von den Regierungen, welche sie jetzt frei gewählt hatten, Rechenschaft zu verlangen.
Die Regierungsbilanz der Islamisten hätte, wenn sie denn bis zur nächsten Wahl an der Macht geblieben wären, viele Teile der Öffentlichkeit, die aus religiösen oder emotionalen Gründen die Bruderschaft unterstützten, eines Besseren belehrt. Nach mehreren Jahrzehnten, während derer die Islamisten betonten, dass sie Opfer des Staates seien, und damit prahlten, Vorreiter beim "Widerstand gegen den Westen" zu sein, war dies nun ihre erste Bewährungsprobe an Schalthebeln der Macht. Ihr umfassendes Scheitern hätte sie ihre Vorteile gekostet, die sie lange gegenüber ihren Rivalen genossen hatten – einschließlich Prestige, Moral und "Ausstrahlung". Sie waren in Tunesien, Libyen und Ägypten endlich mit der Zerreißprobe, die sich Politik nennt, konfrontiert; das Label der "Unterdrückten" und das gesammelte Kapital der Opferrolle hätten zu erodieren begonnen. Durch den politischen und demokratischen Prozess – nicht durch militärische Gewalt – wären die Islamisten am Ende zahlenmäßig drastisch geschrumpft, wobei die Öffentlichkeit das entscheidende Urteil gefällt hätte.
Doch es stellte sich als unmöglich heraus, die Bruderschaft und den Präsidenten Mohammed Mursi bis zum Ende der Wahlperiode weiterregieren zu lassen. Die aktive, breitgefächerte Jugendbewegung "Tamarrud" ("Rebellion") organisierte sich auf schnelle und beeindruckende Weise, um vorgezogene Wahlen zu verlangen – was an sich legitim und demokratisch war. Ihre Mobilisierung von Millionen Menschen versetzte Mursi und seine Anhänger in Panik, was Uneinigkeit in der Führung zur Folge hatte. Unter dem steigenden Druck – von der Straße, Mursis Klüngel, Feinden und Freunden – schien eine Einigung auf vorgezogene Wahlen in Reichweite zu liegen. Aber die schnelle Intervention der Armee zerstörte den bis dahin demokratischen Prozess.
Was die Situation noch verschlimmerte, waren die voreilige Anerkennung von und Kollaboration mit den Handlungen des Militärs. Das ist sowohl für Ägypten als auch für die Zukunft der Liberalen bedrohlich. Es fügt dem ohnehin schon geschundenen Gesicht des arabischen Liberalismus neue, selbstverschuldete Narben zu und befeuert wieder die Narrative der "unterdrückten und schikanierten" Islamisten – welche sich nun auf ihre Erfahrungen mit Tötungen und Verhaftungen ihrer Mitglieder stützen können, auf die Entführung ihres Präsidenten und den Diebstahl ihres Wahlsieges von (wie sie argumentieren werden) einer Koalition aus Liberalen und Generälen.
Die vier Gefahren
Doch es gibt vier noch größere Gefahren, die sich über Ägypten hinaus auf die gesamte Region erstrecken.
Erstens stellt das Bündnis zwischen Liberalen und Militär eine Einladung zum Bürgerkrieg dar, den andere arabische Länder bereits durchlebt haben (wie zum Beispiel Algerien in den 1990ern). Denn die Position der Liberalen erschüttert den wachsenden, wenn auch zurückhaltenden Glauben der Mainstreamislamisten an die Demokratie. Sie macht moderate Islamisten auch verwundbar für Attacken vonseiten ihrer radikalen Glaubensbrüder. Und sie nützt Djihadisten und Fanatikern, indem sie ihnen eine gottgesandte Ausrede liefert, noch einen sinnlosen Krieg anzuzetteln (was durch Ayman al-Zawahiri und al-Qaidas jubilierende Aussagen verdeutlicht wird).
Zweitens hat diese Allianz in der postkolonialen arabischen Welt lange Zeit dafür gesorgt, dass sowohl der Liberalismus als auch der Säkularismus diskreditiert werden. Dieser Misskredit wird nun weitergeführt und hat einen weiteren, entfremdenden Aspekt gewonnen: als Gegner des freien Geists und der aufkeimenden Demokratie, die von der Revolution 2011 auf die Welt gebracht wurde.
Drittens ist es sehr riskant, das Militär zu beauftragen, den politischen Prozess zu schützen und die Demokratisierung zu überwachen. Wenn Politik nicht die Aufgabe irgendeiner Armee ist, so trifft das umso mehr auf das ägyptische Militär zu – ein Produkt jahrzehntelanger autoritärer Herrschaft. Die Armee steht für Autoritarismus, Vetternwirtschaft und Korruption – Dinge, für die es jetzt einen Freibrief gibt. Die Rede des Militärs von "Stabilität" und "Ordnung", auf deren Interpretation es einen exklusiven Anspruch erhebt, wird dazu benutzt, jeglichen demokratischen Prozess, der angeblich nicht mit den Interessen der Generäle übereinstimmt, zu verlangsamen oder zu blockieren.
Viertens drohen die Sprache und das Denken auf beiden Seiten der Allianz von Liberalen und Militärs auch nur die Möglichkeit einer stabilen Demokratie in Ägypten zu ersticken. Liberale Proputschisten reagieren irritiert auf den Begriff "Militärputsch": In ihren Augen hat die Armee interveniert, um den Volkswillen umzusetzen, wie er durch Millionen Menschen auf den Straßen ausgedrückt wurde, und um das Land vor einem Bürgerkrieg zu bewahren. Sie argumentieren, dass der gewählte Präsident seine Legitimität verloren habe, weil die "Legitimität der Straße" sich gegenüber der Legitimität der Wahlurne als stärker und zahlenmäßig überlegen erwies. Das widerspricht den grundlegenden Prinzipien von Demokratie und bedeutet einen Schritt ins absolut Ungewisse.
Konkurrierende Straßenlegitimäten
Jede Straßenlegitimität muss durch die Legitimität der Wahlurne abgesichert werden. Anderenfalls wird Ägypten – gleiches gilt übrigens auch für jedes andere Land – in einem endlosen, chaotischen Wettkampf konkurrierender "Straßenlegitimitäten" enden, in welchem die Muslimbruderschaft und ihre Rivalen versuchen, sich gegenseitig darin zu übertreffen, ein gespaltenes Volk zu mobilisieren. Das bedeutet auch, dass künftig gewählte Präsidenten auf ewig ungeschützt sind vor populistischen Straßenbewegungen, die mit dem Glauben bewaffnet sind, dass sie jederzeit das demokratische Staatsoberhaupt rechtmäßig stürzen können.
Ägyptens Liberale haben heimlich an einer Verletzung der Demokratie durch das Militär mitgewirkt, welche sowohl prinzipiell falsch ist als auch in der Praxis mit Sicherheit großen Schaden anrichten wird. Es ist unerlässlich, dass dieser Umstand anerkannt wird, bevor die revolutionären Hoffnungen Ägyptens für immer begraben werden.
Khaled Hroub
© Qantara.de 2013
Übersetzung aus dem Englischen: Jonas Berninger