Die Sprache als letztes Bindeglied
"Iqra!" - "Lies!" Eindeutig ist der Befehl, den Mohammed, der Stifter des Islam, erhalten hat. Gott selbst habe ihn gegeben, berichtet die Überlieferung über die Ursprünge des Islam im frühen 7. Jahrhundert, und sein Prophet konnte nicht anders als ihm zu entsprechen. Laut las er den Seinen vor, was ihm aus himmlischen Höhen diktiert worden war, und was sie hörten, hatte einen ganz eigenen, ganz besonderen Klang. Nicht umsonst setzt sich der Name des heiligen Buchs der Muslime, der Koran, im Arabischen aus den drei Konsonanten "q", "r" und dem in den europäischen Sprachen unbekannten Verschlusslaut "hamza" zusammen. "Quran" also, das zu Lesende. Laut sollte es gelesen werden, damit man den charakteristischen Klang der Sprache auch hört.
Offenbarung auf Arabisch
Sich wiederzuerkennen in der arabischen Sprache, zu erleben, dass auch sie es vermag, die theologischen Ideen ihrer Zeit auszudrücken - das, erklärt der Bonner Islamwissenschaftler Stefan Wild, machte zu großen Teilen den Erfolg der neuen Religion aus.
"Der Koran ist gewissermaßen nicht nur zufällig auf Arabisch geschrieben, sondern er ist - und das steht auch im Text selbst - vor allem ein arabischer Koran. Und in den Anfängen der arabischen Religion war das Hauptkennzeichen dieser neuen Religion nicht etwa der Umstand, dass sie neue Ideen über Gott, die Engel und die Propheten enthielt. Sondern der Umstand, dass alle diese Dinge, die vorher schon in anderen Sprachen gesagt und gedacht worden waren, jetzt auf Arabisch offenbart wurden."
Das Arabische und der Islam bilden eine dicht verwobene Einheit. Und wenn die Araber seit dem siebten Jahrhundert Zug um Zug nach Westen und Osten vordringen und auf ihrem Zug immer größere Gebiete erobern, verbreiten sie ihre Kultur gleich zweifach: religiös ebenso wie sprachlich. Sicher leben unter ihrer Herrschaft auch Angehörige anderer Religionen. Aber zumindest sprachlich sind die Unterworfenen mit den neuen Herren fortan eng verwoben. "Die Nichtmuslime - etwa die Christen im Libanon und im Irak - haben zwar nicht den Islam übernommen, aber eben doch die dominierende Kultursprache des Arabischen", erklärt Stefan Wild.
Herder und Fichte im Orient
Und wie zu Zeiten der islamischen Expansion war das Arabische auch dann das einende Band, als die sich vom persischen Golf bis zum Atlantik erstreckenden Reiche ihren politischen Niedergang erlebten. Im 16. Jahrhundert drangen die Osmanen immer weiter vor und unterwarfen die arabischen Provinzen eine nach der anderen. Über dreihundert Jahre standen diese unter der Herrschaft Konstantinopels. Fortan war das Osmanische, eine frühe Form des modernen Türkisch, Amtssprache in der arabischen Welt. Doch im 19. Jahrhundert besannen sich die ehemals arabischen Provinzen auf ihre Wurzeln und begehrten gegen die fremden Herren auf.
"Beim Widerstand gegen das polyglotte und viele Völker umfassende Osmanische Reich", erklärt Stefan Wild, "spielte das Arabische als nationale Sprache eine große Rolle. Arabische Gelehrte griffen auf Fichte und Herder zurück, um zu erklären, inwiefern das Arabische ein einendes Band sein konnte. Man hat auf die Parallele zum Deutschen verwiesen: das Deutsche als Bindeglied verschiedener deutscher Kleinstaaten - das war im 18. und 19. Jahrhundert ja eine ganz geläufige Vorstellung. Die Idee, dass das Arabische, wenn man es nur genügend stützt und verbreitet, das einigende Band einer großen arabischen Nation sein könnte - zu dieser Idee hat man sich von den Deutschen inspirieren lassen."
Ideologische Spaltung
Auch im 20. Jahrhundert spielte das Arabische für das Identitätsgefühl der Region eine große, vielleicht sogar die entscheidende Rolle. Immer stärker zeigte sich nämlich, in welch unterschiedliche Richtungen die Staaten der Region gingen. Die einen, vor allem Ägypten, Syrien, Algerien und die Republik Jemen, unternahmen sozialistisch-nationalistische Experimente und suchten Kontakte zur Sowjetunion.
Andere, allen voran Saudi Arabien und andere Staaten der Arabischen Halbinsel, kultivierten einen konservativen Islam, der große Teile des öffentlichen Lebens regelte. Ideologisch kamen die beiden Richtungen nicht mehr zusammen, und von einer Einheit der arabischen Staaten ließ sich immer weniger sprechen. Das, erklärt Stefan Wild, spiegele sich auch im zentralen Organ dieser Staaten, der arabischen Liga. "Ich habe den Eindruck, das Einzige, was die Arabische Liga zusammenhielt und zusammenhält, ist das Arabische. Allein die Sprache, das Hocharabische, kann diese Welt überhaupt noch zusammenhalten."
Risse quer durch die Gesellschaft
Im neuen Jahrtausend hat der arabische Frühling in aller Deutlichkeit gezeigt, wie sehr die Gesellschaften der arabischen Länder auch innerhalb der Landesgrenzen auseinanderdriften. Reiche und Arme, Gebildete und Analphabeten, Gläubige und Ungläubige: Sie alle haben ganz verschiedene Interessen, Vorstellungen, Lebensstile. Die Frage, was Gesellschaften zusammenhält, stellt sich auch in den arabischen Ländern mit großer Dringlichkeit. Sie hat zum Teil sehr gewalttätige Antworten gefunden, vor allem in Syrien.
So haben die einzelnen arabischen Länder untereinander ein ebenso zerbrechliches Verhältnis wie die einzelnen Schichten innerhalb der jeweiligen Landesgrenzen. Eine neue Einheit bilden dank der Digitalisierung die arabischen Nachrichten- und Informationssender. "Al Jazeera", "Al Arabiya" und andere sorgen dafür, dass Araber weltweit auf dem gleichen Informationsstand sind. Über die Bewertung der Nachrichten gehen die Meinungen allerdings weit auseinander. Einigkeit herrscht nur darüber, dass die sprachliche Einheit erhalten werden sollte. Das sehen auch viele arabische Autoren so, erklärt Stefan Wild:
"Viele Schriftsteller warnen etwa davor, dass die arabischen Dialekte in die zeitgenössische Literatur eindringen. Sie fürchten, es könnte irgendwann zum Beispiel ein ägyptisches, ein marokkanisches und ein irakisches Arabisch geben. Diese Varianten, so ihre Sorge, würden dann immer weiter auseinanderdriften."
Spontane Bindungsgefühle
Was also hält die arabische Welt zusammen? Nicht mehr viel. Politisch, ökonomisch sowie religiös und kulturell gehen die Länder der Region unterschiedliche Wege. Wenn aber der Aufstand, der in Tunesien ausbrach, so schnell auf die anderen Länder überspringen konnte, dann vor allem aus einem Grund: Die Menschen der Region empfinden eine spontane Bindung zueinander. Über Werte und Lebensstile mögen sie streiten. Aber sie tun es auf Arabisch.
Es ist die Sprache, die ihre Welt über alle Grenzen hinweg zusammenhält. Und die dazu beiträgt, sie wie in den derzeitigen Aufständen, zutiefst zu erschüttern - und am Ende hoffentlich nach vorn zu bringen.
Kersten Knipp
© Deutsche Welle 2014
Redaktion: Michael Borgers/Deutsche Welle