Kunst gegen das Vergessen
CANAN ist eine mollige Frau mit lockigem, schulterlangen Haar und einer Zahnlücke zwischen den beiden Vorderzähnen, die immer zum Vorschein kommt, wenn sie lacht. An diesem Morgen in der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) trägt sie ein luftiges Sommerkleid. Hinter ihr hängt eines ihrer beiden Werke, die in der Ausstellung "Politische Kunst im Widerstand in der Türkei" gezeigt werden.
Es zeigt sie selbst, nackt, den Körper vollständig lila gefärbt vor hellem lila Hintergrund, heroisch eine Fahne in die Luft streckend. „Die Farbe Lila ist die Farbe des Feminismus“, erklärt CANAN, „und meine Nacktheit steht für Unabhängigkeit und Freiheit.“ Mit dem Bild weist die 46-jährige Künstlerin auf die teils dramatische Situation von Frauen in der Türkei hin.
Provokation mit feministischen Themen
Sich selbst bezeichnet die in Istanbul lebende Künstlerin als feministische Aktivistin. „Alles Persönliche ist politisch“, dieser Slogan der feministischen Bewegung der 1970er Jahre, spiegelt das Verständnis wider, das ihrer Kunst zugrunde liegt. „Mit meiner Kunst möchte ich provozieren, keine Sensationen erheischen“, erklärt die Frau, deren Werke nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland zum Teil als pornografisch empfunden und zensiert wurden.
„Ich möchte, dass meine Werke zum Nachdenken und zur Diskussion anregen.“ Ihre Themen finde sie in ihrer direkten Umgebung, in eigenen Erlebnissen und denen ihrer Bekannten, erklärt CANAN. „Ich mache das für mich, meine Tochter und für alle anderen Frauen“.
Werke aus vier Jahrzehnten
CANAN gehört zu den 20 Künstlerinnen, Künstlern und Kollektiven, deren Werke zur politischen Protestkunst in der nGbK ausgestellt werden.
Die Ausstellung umfasst Werke aus dem Zeitraum zwischen dem 1. Mai 1977 – dem Tag der Arbeit, an dem die Polizei auf dem Taksim-Platz in Istanbul massiv gegen die versammelten Gewerkschafter und Demonstranten vorging und 30 Menschen ums Leben kamen, etliche verletzt und Hunderte verhaftet wurden – bis zu den Gezi-Protesten im Jahr 2013, dem international wohl bekanntesten gesellschaftlichen Widerstand gegen Polizeigewalt in der Türkei.
Gesellschaftlicher Widerstand
Die Ausstellung zeigt verschiedene Facetten künstlerischer Verarbeitung gesellschaftlichen Widerstands. So finden sich unter dem Thema „Forced Disappearances“ konzeptionelle Arbeiten, die sich mit Menschen beschäftigen, die auf tragische Weise durch den Staat „verschwunden“ sind.
Eine Reihe von Fotoarbeiten zeigt Menschen, die das Verschwinden ihrer Familienangehörigen beklagen. Wie etwa die sogenannten Samstagsmütter, die Woche für Woche mit den Fotos ihrer vermissten Söhne in den Händen gegen deren unaufgeklärtes Verschwinden protestieren.
Blick in die Geschichte des Landes
Eine weitere Arbeit zu diesem Thema ist die Graffiti-Darstellung der Künstlerin Nalan Yırtmaç. In ihrer Street Art hat sie Portraits der 1915 aus Istanbul verschleppten armenischen Oppositionellen, Intellektuellen und Schriftsteller in Schablonen gesprüht. Damit trägt sie die Opfer auf die Straße, in den öffentlichen Raum und kämpft dagegen an, dass sie vergessen werden. Sie schreibt sie quasi ins kollektive Gedächtnis und plädiert für eine Umschreibung der offiziellen Geschichtsschreibung.
Dass sie sich mit der Geschichte der Armenier aus Istanbul beschäftigt, sei für sie ganz natürlich, erklärt Nalan Yırtmaç. Anlass dafür sei, dass 100 Jahre nach der Verschleppung und Ermordung von Armeniern im Osmanischen Reich die Regierung den Völkermord noch immer nicht anerkannt habe, erklärt sie empört. „Meine Absicht ist es nicht, mit meiner Kunst zu provozieren“, sagt die zierliche Frau mit den kurzen Haaren und der leisen, klaren Stimme. „Meine Arbeit ist eine Entschuldigung an die Opfer und gleichzeitig ein Vorwurf an die Regierung.“
Themen aus Istanbul und der Osttürkei
Auffällig ist, dass bei der Ausstellung die Grenzen zwischen Dokumentation und künstlerischer Arbeit verschwimmen. „Gerade hier entsteht eine interessante Spannung“, erklärt Eva Liedtjens, die das Projekt seit zwei Jahren mitbetreut. So zeigen Arbeiten zum „Bild im Bild“ Fotos von der Beerdigung des armenischen Journalisten Hrant Dink, der 2007 auf offener Straße erschossen wurde: trauernde Menschenmassen, die wiederum ein Foto von Dink in die Luft halten.
Ein besonderes Verdienst der Ausstellung ist, dass sie sich nicht auf die bekannte Stadt Istanbul beschränkt, sondern auch die gesellschaftlichen Proteste und deren künstlerische Verarbeitung im Osten der Türkei aufgreift. Beeindruckend in diesem Zusammenhang ist die Videoinstallation „Adult Games“ von Erkan Özgen, geboren 1971 im südöstlichen Mardin. Sie zeigt Kinder, die in der Osttürkei, in einem Gebiet, in dem Repression und Bürgerkrieg Alltag sind, auf einem Spielplatz spielen. Sie alle sind maskiert und gleichen Guerillakämpfern, indem sie das Verhalten der Erwachsenen, den Kampf von Aktivisten gegen die Polizei imitieren.
Ironisch-verspielt bis ernst und pathetisch
Beim Vergleich der Werke fällt auf, wie verspielt und selbstironisch die Kunst und Selbstdarstellung der Gezi-Bewegung mit ihren vielen Karikaturen ist. Dagegen wirken die Fotos von 1. Mai-Plakaten der Arbeitergewerkschaft DISK aus den 1970er Jahren sehr pathetisch und ernst. Sie wurden vom 2003 gegründeten unabhängigen Fotografen-Kollektivs Nar Photos in eine Collage verwandelt. Aus den Jahren um den Militärputsch 1980 gibt es keine Werke, was auf die Unterdrückung jeglicher oppositioneller Stimmen und die Selbstzensur in diesen Jahren zurückgeht.
Inhaltlich und sachkundig ergänzt wird die sehenswerte Ausstellung durch den zweisprachigen Katalog, der die Themenkomplexe „Kollektives Gedächtnis“, „Kunst und Widerstand“ und „Urbaner Widerstand“ behandelt und damit die Ausstellung theoretisch unterfüttert. Außerdem wird ein Rahmenprogramm mit Diskussionsveranstaltungen zu einschlägigen Themen angeboten.
Ceyda Nurtsch
© Qantara.de 2015
Ausstellung: Politische Kunst im Widerstand in der Türkei
Neue Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK), bis 30. August 2015. Der 250-seitige Katalog ist bei der nGbK erschienen und kostet 18,- Euro im Handel, über die nGbK 16,- Euro und für nGbK-Mitglieder 8,- Euro.