Eine Kindheit in Teheran
"Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen“. Das könnte der Titel eines amerikanischen Horrorromans sein. Oder irgendwas von Shakespeare. Tatsächlich ist es ein Zitat aus Dantes "Inferno", dem ersten Teil der "Göttlichen Komödie". Und es ist der Titel von Ava Farmehris Debütroman, der ursprünglich 2017 in Kanada erschien und nun, in der Übersetzung von Sonja Finck, auf Deutsch vorliegt. Es ist ein Titel, der Rätsel aufgibt, weil man sich im Verlaufe des Buches immer wieder fragt, was er denn nun mit der Geschichte zu tun hat.
Der Name Ava Farmehri ist ein Pseudonym und ein bislang gut gehütetes. Denn viel ist über die Autorin nicht in Erfahrung zu bringen, außer dass sie „im Nahen Osten umgeben von Büchern, Katzen und Krieg“ aufgewachsen ist, wie es im Klappentext heißt. Es steckt aber viel in den Seiten dieses Buches, in den Erzählungen, Beobachtungen und Anekdoten einer Kindheit in Iran in den 1980er und 1990er Jahren. Zu viel, das so echt und lebensnah ist, als dass es alles bloß Fiktion sein könnte. Man ahnt, dass da viel Autobiographisches darinsteckt, wenn auch womöglich verfremdet. Und der Hintergrund ist ohnehin so real, wie es nur geht.
Also schon wieder ein Buch einer iranischen Autorin über Schah, Islamische Revolution, Iran-Irak-Krieg, Islamismus und Gefängnis, wieder eine Exil-Erzählung der Generation der Verbannten? Das fragt man sich natürlich auf den ersten Seiten des Buches und seufzt mal wieder, weil die wenigen Bücher iranischer Autorinnen und Autoren, die in Deutschland erscheinen, so monothematisch sind – was keineswegs ihnen, sondern den hiesigen Verlagen anzulasten ist. Lesenswert sind die meisten dieser Bücher, nur entsteht zwangsläufig der – völlig falsche – Eindruck, es würde in Iran über nichts anderes geschrieben.
Geboren mit der Islamischen Revolution
Und so beginnt es: Die Protagonistin Sheyda steht vor Gericht, als das Todesurteil über sie gesprochen wird. Der Fall scheint eindeutig: Sie soll ihre Mutter ermordet haben und sie hat die Tat bei ihrer Festnahme im verschneiten winterlichen Garten ihres Elternhauses sofort gestanden. Es ist Ende 1999. Sheyda ist 20 Jahre alt. Sie wurde im Schicksalsjahr der Islamischen Revolution geboren, sie hat viel über die Verhältnisse in den Haftanstalten gehört und sitzt nun selbst dort ein.
Eingesperrt in eine Gruppenzelle mit anderen Frauen, stets gegängelt von den sadistischen Wärterinnen, immer in der Angst, nachts aus der Zelle geholt und vergewaltigt zu werden. Doch im Gegensatz zu ihren Mitinsassinnen ist Sheyda erstaunlich ruhig und nimmt ihr Schicksal scheinbar gleichmütig hin – immerhin, sie sei ja schuldig, sagt sie, es musste so kommen.
Aber stimmt das? Als sie in Einzelhaft verlegt wird, weiß sie, dass es bald soweit ist. Sie erinnert sich, lässt ihr ganzes kurzes Leben noch einmal an ihrem inneren Auge vorbeiziehen. Sie war stets ein Sonderling, hatte keine Freunde, war in der Schule aufmüpfig und rebellisch und brachte ihre Eltern oft zur Verzweiflung, auch weil sie noch mit sieben Jahren das Bett einnässte und sich kein Arzt fand, dem eine Lösung für das Problem einfiel.
Schon als kleines Mädchen klaut sie, ist eine notorische Lügnerin und flüchtet sich aus der ungeliebten, engen Realität in eine Traumwelt, wo sie sich ein Alter Ego erschafft, das nach Dantes Beatrice benannt ist und viel mit dem literarischen Vorbild gemein hat. Sie ist heimlich verliebt in Mustafa von nebenan, der ihr Englischunterricht gibt und viel älter ist als sie. Als er begreift, woher Sheydas täglicher Lerneifer rührt, fällt er aus allen Wolken.
Rebellion auf ihre eigene Art
Als die Pubertät ihre ersten Blüten treibt, stürzt sich Sheyda in Affären mit deutlich älteren Männern. Es ist ihre Art der Rebellion gegen ein System, das Frauen in ihren Freiheiten immer stärker beschneidet. Einem System allerdings, das im Großteil des Buches kaum direkt thematisiert wird, dessen Auswirkungen auf das Leben aber in fast jeder Zeile mitschwingen. Einmal stellt sich Sheyda vor, wie sie begnadigt und bei ihrer Entlassung von einem Journalisten gefragt wird, was sie fühlt. "Nichts“, sagt sie. "Gar nichts!“ Eine Anspielung auf Chomeinis Rückkehr nach Teheran 1979, wo dieser die gleichen Worte wählte.
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Man vergisst beim Lesen bisweilen, dass es sich um eine mehr als 200 Seiten lange Rückblende handelt. Denn nur selten kehrt die Erzählung für wenige Seiten ins Gefängnis-Jetzt zurück, nur um dann wieder ins Damals einzutauchen. Dann mäandert die Geschichte durch durch scheinbar assoziativ aneinander anstoßende Erinnerungen an die Großmutter oder die stets unglückliche Tante Bahar, an den schrecklichen tödlichen Unfall des Vaters, an die verschrobene Nachbarin und ihre geliebten Hühner, an die ewigen Tage des Lesens während Sheydas Halbtagsjob in einer Buchhandlung (wo sie auch Dantes Beatrice entdeckt, die sie dann im Nachhinein ihrem kindlichen Ich überstülpt).
Es ist vor allem Sheydas Stimme, ihr tiefschwarzer Humor, mit dem sie immer wieder aneckt, es sind ihre schrägen Marotten, die diese Protagonistin so einprägsam machen.
Und doch fragt man sich immer wieder: Worauf läuft das alles hinaus? Läuft es überhaupt auf etwas hinaus? Sind Gefängnis und Todesurteil bloß ein erzählerischer Kniff, um all die Kindheitserinnerungen zu rechtfertigen? Ava Farmehri lässt all das lange im Dunkeln. Genauer: Sie lässt es "im düstern Wald", wie es im Titel heißt, dessen Bedeutung sich erst ganz am Ende erschließt.
Erst auf den letzten drei Seiten begreift man, was die Autorin hier eigentlich macht, wie geschickt sie dieses Buch aufbaut und wie kalkuliert jede einzelne dieser oft scheinbar unzusammenhängenden Rückblenden ist. Wohin all die Fäden laufen, das versteht man erst spät – zu spät. Denn als es so weit ist, zieht Farmehri ihren Leserinnen und Lesern den Boden mit solcher Gewalt unter den Füßen weg, dass man sprachlos zurückbleibt.
© Qantara.de 2021
Ava Farmehri: "Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen“. Roman. Aus dem Englischen von Sonja Finck. Edition Nautilus, Hamburg 2020.