Gestrandet in Gaza

70.000 Palästinenser sind bisher vor dem Bürgerkrieg aus Syrien geflohen – willkommen heißt sie nur die Hamas im Gaza-Streifen. Eine Reportage von Inge Günther

Von Inge Günther

Zwölfjährige wie Odai Abu Hassan lieben Reiseabenteuer, aber etwas anderes ist es, wenn man auf dem Weg zum Flughafen Angst haben muss, eine Bombe auf den Kopf zu bekommen. So wie in Damaskus.

Nichts für schwache Nerven war auch die letzte Etappe ihrer Flucht vor dem syrischen Bürgerkrieg. Nach der Landung in Kairo und ermüdender Fahrt in einem klapprigen Taxi quer durch den Sinai mussten Odai, sein Bruder und die Tante noch mal allen Mut zusammen kratzen, um in einen kilometerlangen, stickigen Tunnel nach Gaza zu kriechen. Wie das war? "Schrecklich", flüstert Odai, ein schmächtiger, schüchterne Junge, und verstummt.

Es ist seine Tante Amna, die erzählt, was Odai in seinen jungen Jahren noch alles mehr erfahren hat: den Verlust des Vaters, der an einem Herzinfarkt starb, den Abschied von der Mutter, die ihn und den vier Jahre älteren Bruder Ahmed im Stich ließ, um mit einem anderen Mann ein neues Leben anzufangen. Und schließlich die Nachricht vom Tod der Großmutter, die bei einem Granatbeschuss in Yarmuk, dem größten palästinensischen Flüchtlingslager in Syrien, starb.

In Yarmuk sind sie alle aufgewachsen: Odai, Ahmed, Tante Amna und die anderen Verwandten, die sich jetzt eine billige Wohnung in einem Rohbau in Rafah teilen, am Südzipfel des Gazastreifens. Yarmuk ist heute ein Trümmerhaufen. Seitdem im vorigen Winter heftige Kämpfe zwischen syrischen Rebellen, die sich in dem Lager verschanzt hatten, und den Truppen des Assad-Regimes entbrannten, haben die meisten der 160.000 Bewohner das Weite gesucht.

Yarmuk – Refugium für die Ärmsten der Armen

Palästinensische Flüchtlinge in Yarmuk, Damaskus; Foto: Getty Images/AFP
Zielscheibe Flüchtlingscamp: Yarmuk ist heute ein Trümmerhaufen. Seitdem im vorigen Winter heftige Kämpfe zwischen syrischen Rebellen, die sich in dem Lager verschanzt hatten, und den Truppen des Assad-Regimes entbrannten, haben die meisten der 160.000 Bewohner das Weite gesucht.

Geblieben sind nur die Ärmsten der Armen. Die Lage in den anderen acht Camps ist kaum besser, fast alle sind zu Kriegszonen geworden. Eine halbe Million Palästina-Flüchtlinge waren in Syrien registriert. Die für sie zuständige Hilfsorganisation UNRWA geht davon aus, dass die Hälfte von ihnen keine Bleibe mehr hat. 70 000 Palästinenser sollen aus Syrien geflohen sein. Anders als syrische Bürgerkriegsflüchtlinge sind sie nirgends willkommen – es sei denn in Gaza.

Die Hamas jedenfalls breitet demonstrativ die Arme aus. "Unsere Brüder sollen sich bei uns zuhause fühlen", hat ihr Vizeminister Ghasi Hamad die Devise ausgegeben. Odai und die anderen Flüchtlingskinder besuchen auch wieder eine Schule. "Die Leute sind wirklich nett, sie haben wenig, aber helfen uns aus, soweit sie können", berichtet Kamilia Abu Schkaim (52), die mit ihren sechs Kindern schon im Sommer 2012, als im Yarmuk-Camp die Kämpfe anfingen, in den Gazastreifen geflohen ist. In ihrem Fall war das einfach. Die Ägypter ließen sie, ohne allzu viel nachzufragen, über die Grenze nach Rafah. Flüchtlingsfamilien schiebt man überall gerne ab.

Gaza war ja auch ihr Ziel, weil hier – genauso wie in Jordanien, Libanon und Syrien – die palästinensische Flüchtlingshilfe UNRWA vor Ort ist. Sie hat ihnen Matratzen, Decken, Töpfe und 125 Dollar Wohngeld pro Monat gegeben. Für das Allernötigste ist gesorgt.

Trotzdem kann Kamilia Abu Schkaim sich nur schwerlich an das Leben in Rafah gewöhnen. Sie ist eine emanzipierte, geschiedene Frau, die in Syrien als Journalistin gearbeitet hat und gerne ihre Meinung sagt – alles andere als eine Islamistin.

Endstation Gaza

Nicht, dass sie sich beschweren wolle. Schließlich habe sie von der Hamas eine ABM-Stelle mit 180 Euro in einem Krankenhaus bekommen. "Aber alles ist so fremd hier", sagt die 52-Jährige, "sogar das Essen." Dabei war sie noch nie der alten Heimat so nah. Das Dorf, aus dem ihre Eltern 1948, dem Jahr der israelischen Unabhängigkeit und der palästinensischen Nakba (Katastrophe) flohen, liegt nur ein paar Kilometer Luftlinie entfernt: im Negev, der Wüste, die an den Gazastreifen grenzt. Sie seufzt. "Jetzt ist Gaza unsere Endstation."

Kamilia Abu Schkaim mit Sohn Abdullah, einem ihrer sechs Kinder im Alter zwischen zehn und 22 Jahren; Foto: Inge Günther
. „Wenn der Bürgerkrieg in Syrien vorbei ist, bleibe ich keinen Tag länger in Gaza“, meint Kamelia Abu Schkaim (l.), die bereits 2012 aus dem Flüchtlingscamp Yarmuk in Damaskus wegen der Kämpfe zwischen Rebellen und Assad-Truppen mit ihren Kindern fliehen musste.

Den etwa tausend Palästinensern, die aus Syrien in den übervölkerten und unterversorgten Gazastreifen geflüchtet sind, geht es trotzdem besser als ihren Schicksalsgenossen andernorts. Viele der 50.000 Palästinenser, die sich vor dem syrischen Bürgerkrieg nach Libanon retten konnten, wissen nicht wohin.

UNRWA-Mitarbeiter berichten, in den berüchtigten Flüchtlingslagern Sabra und Schatila herrsche eine derart katastrophale Enge, dass Schlafunterkünfte schichtweise genutzt werden müssten. Auf der untersten Stufe der Flüchtlingshierarchie finden sich auch die 9.000 Palästinenser aus Syrien wieder, die es über die jordanische Grenze schafften.

Nicht mal in das Zeltlager Zaatari, wo derzeit 120.000 Syrer untergebracht sind, wurden sie gelassen, sondern in separate, noch restriktivere Spezialcamps gesteckt. Das Haschemitische Königreich soll aus Sorge um seine "demografische Balance" sogar palästinensische Flüchtlinge zurück nach Syrien geschickt haben.

Fernab der Flüchtlingsrealitäten

Da fragt sich, warum die moderate Autonomieführung in Ramallah nicht mehr zu ihrer Rettung tut. Aufnahmewillig gibt sie sich zumindest. Man habe Israel ersucht, Palästinenser aus Syrien über die Allenby-Brücke ins Westjordanland zu lassen, versichert Mohammed Shtayyeh, einer der Unterhändler in den Friedensverhandlungen. Aber die Israelis wollten diese Menschen in Not nur passieren lassen, wenn sie erklärtermaßen auf ihren Flüchtlingsstatus verzichteten. "Eine Bedingung, die wir völlig ablehnen", so Shtayyeh.

Es geht um das sogenannte Rückkehrrecht – eines der brisantesten Themen im israelisch-palästinensischen Konflikt. Alle wissen, dass es nur eine pragmatische Lösung geben wird und keine massenhafte Rückkehr nach Israel. Aber am Prinzip wagt keiner zu rütteln, nicht mal im Angesicht von Lebensgefahr.

Dabei kamen bereits 1.377 Palästinenser im syrischen Bürgerkrieg um, dutzende sollen zudem beim Versuch, von Libyen nach Malta überzusetzen, ertrunken sein. Auch die in Gaza gestrandeten Flüchtlinge aus Syrien sagen, keiner würde akzeptieren, wenn Ramallah den Israelis beim Rückkehrrecht einfach nachgebe. So sehr vielen Leidensgenossen mit einer Öffnung der Westbank geholfen werden könnte.

Doch geht die ideologisch aufgeladene Debatte an den individuellen Lebenswünschen vorbei. "Wenn der Bürgerkrieg vorbei ist und ich das Geld für die Tickets zusammenbekomme", verrät Odais Tante, Amna Abu Hassan, "wollen wir nur eines: zurück nach Syrien. Dort sind wir geboren, dort fühlen wir uns zuhause." Drastischer drückt es die kämpferische Kamelia Abu Schkaim aus. "In dem Fall bliebe ich keinen Tag länger in Gaza."

Inge Günther

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de