Fanatisierter "Volksislam"

In der Vergangenheit wurde das Islamverständnis der pakistanischen Barelwi-Bewegung oftmals als Gegennarrativ zu fundamentalistischen Strömungen interpretiert. Doch hat sich die Bewegung zuletzt deutlich radikalisiert, wie Mohammad Luqman berichtet.

Von Mohammad Luqman

Bunte Schreine und prächtige Grabanlagen von Sufis (in Urdu "Dargah" oder "Mazar" genannt) gehören zum festen Bild pakistanischer Städte und Dörfer. An bestimmten Tagen im Jahr werden an den Grabstätten "Urs", Feste zu Ehren des Heiligen, veranstaltet. Dann herrscht mit "Qawali" (eine besondere Art des Sufigesanges auf dem Subkontinent), ekstatischen Tänzen ("Dhamal"), öffentlichen Küchen ("Langar"), Räucherkerzen und Riten, die in ihrem Erscheinungsbild vielfach an hinduistischen Traditionen erinnern, eine Jahrmarktatmosphäre und buntes Treiben.

Durch Spenden und Opfer am Schrein erhoffen sich einfache Bauern und abergläubische Stadtbewohner eine Fürbitte des Heiligen für ihre Unternehmungen. Die Anhänger dieses "Volkislams" werden nach dem indischen Gelehrten Ahmad Raza Khan Barelwi (gest. 1921) verallgemeinernd Barelwis genannt. Sie konkurrieren mit den puritanischen Deobandis und Ahl-e Hadith um die Deutungshoheit des "wahren Sunnitentums".

Die Barelwis als Gegennarativ zu den Taliban und Al-Qaida

Von ihren Gegnern wird den Barelwis aufgrund ihrer Heiligenverehrung öfters schirk (Polytheismus) vorgeworfen. Immer wieder sind die Schreine das Ziel von Terroranschlägen radikaler Gruppierungen wie der Taliban. Als Folge der Anschläge vom 11. September patronisierte der damalige pakistanische Machthaber Pervez Musharraf die Barelwis als Gegennarativ zu den extremistischen Ideologien von Al-Qaida und Taliban.

In pakistanischen Spielfilmen und Soaps werden seitdem die Barelwis gerne als der traditionelle friedliche pakistanische Islam porträtiert, der toleranter und diametral zu den radikalen Gruppierungen der Taliban, Sipah Sahaba oder Lashkar-e Jhangvi stehen würde. Somit soll Pakistans "Soft Image" in die Außenwelt verstärkt werden.

Pakistans früherer Militärmachthaber Pervez Musharraf, Foto: Reuters
Politisch instrumentalisiert: Als Folge der Anschläge vom 11. September patronisierte der damalige pakistanische Machthaber Pervez Musharraf die Barelwis als Gegennarativ zu den extremistischen Ideologien von Al-Qaida und Taliban.

Die Militärdiktatur Zia ul Haqs hatte in den 1980er Jahren tatsächlich die Denkschulen der Ahl-e Hadith und Deobandis auf Kosten der Barelwis gefördert, obwohl die Barelwis in Pakistan die Mehrheit darstellen. Doch eine solche dichotomische Unterteilung der großen sunnitischen Denkrichtungen wäre simplifiziert. Denn seit einigen Jahren gibt es einen verstärkten Radikalisierungsprozess innerhalb der Barelwis.

Die Hetzreden des Khadim Hussein Rizvi

Personifiziert wird dieser Trend durch den Prediger Khadim Hussein Rizvi, dessen hetzerische Reden und vulgäre Rhetorik mittlerweile berüchtigt sind. Bis vor wenigen Jahren war Rizvi nur wenigen Menschen ein Begriff. Ein angestellter der Religionsbehörde in Punjab predigte er unbehelligt in einer Moschee in Lahore. Zum ersten Mal trat er nach der Ermordung von Salman Taseer, dem Gouverneur von Punjab, in Erscheinung.

Der als liberal geltende Taseer war wegen seiner Kritik an den Blasphemiegesetzen vom eigenen Leibwächter - einem Barelwi- erschossen worden, der angab damit die Ehre des Propheten beschützt zu haben. Rizvi billigte nicht nur die Tat, sondern verlangte auch eine sofortige Freilassung des Mörders, da jegliche Beleidigung des Propheten nur dem Tode geahndet werden könne. Im selben Jahr gründete Rivzi die politische Partei der Barelwis, Tehrik-e Labaik Pakistan (TLP), mit dem Ziel die Blasphemiegesetze weiter zu verschärfen.

 

Doch landesweite Prominenz erlangte der Kleriker erst im Jahre 2017 wegen einer angeblichen Lockerung des "Finalitätspassus" im pakistanischen Wahlgesetz, genauer gesagt in einem Formular für Kandidaten, wo das Wort "I solemnly swear" mit "I believe" abgeändert worden war.

Der Druck der Radikalen auf die Justiz

Die TLP sah darin ein Zugeständnis an die Ahmadi-Minderheit. Rizvi führte darauf seine aufgebrachten Anhänger in einem Protestmarsch nach Islamabad und blockierte mit einem Sit-In (dharna) für Wochen eines der wichtigsten Kreuzungen der Hauptstadt. In Brandreden verlangte er den Rücktritt des Justizministers und die Bestrafung aller "Hintermänner" hinter der Umformulierung. Für den Glauben an die Finalität des Propheten (Khatm-e Nabuwwat) und seiner Ehre wären er und seine Anhänger bereit bis zum Äußersten zu gehen.

Der von der Regierung verhängte Medien-Blackout über Rizvis Protest konnte nicht verhindern, dass Millionen Pakistaner die Botschaften des Mullahs über Soziale Medien konsumierten. Letzten Endes musste der Justizminister seinen Hut nehmen und alle inhaftierten TLP Mitglieder wurden ohne Anklage freigelassen. Ein später veröffentlichter Video-Clip eines Generals, der unter den Freigelassenen Geld verteilte, nährte die Gerüchte, die Armee habe Rizvis Bewegung in Gang gesetzt, um Ministerpräsident Sharif unter Druck zu setzen. Ganz abwegig mag die Vermutung nicht gewesen zu sein.

Nachdem das pakistanische Supreme Court in letzter Instanz die Christin Asia Bibi von Blasphemievorwürfen freigesprochen hatte, kam es wieder zu landesweiten Ausschreitungen der TLP Anhänger. Barelwi-Gelehrte verlangten in aller Öffentlichkeit Asias Hinrichtung und sogleich der obersten Richter.

 

Grassierende Gewalt

Anschläge gewalttätiger Barelwi-Mobs und Einzeltäter gehören mittlerweile zum Alltag in Pakistan. Immer wieder werden Intellektuelle, Blogger und liberale Aktivisten von TLP-Anhängern der Blasphemie bezichtigt und verfolgt. Besondern erschütternd war die Ermordung des College-Lehrers Khalid Hameed Anfang 2019. Ein Schüler hatte den eigenen Lehrer wegen angeblicher Blasphemie in seinem Büro mit mehreren Messerstichen brutal getötet. Nach der Tat gab der Mörder an von Khadim Hussain Rizvi inspiriert gewesen zu sein.

Auch in Europa vermehren sich ähnliche Vorfälle. So tötete ein radikalisierter Barelwi 2016 in Schottland den Kioskbesitzer Asad Shah wegen angeblicher Beleidigung des Islams. Und 2019 veranstaltete die Barelwi Dawat-e Islami Bewegung im hessischen Offenbach einen Tag des Propheten, indem Barelwi Gelehrte in aller Öffentlichkeit den Mörder von Salman Taseer heroisierten und allen Blasphemikern offen mit dem Tode drohten.

Zaheer Hassan Mahmood, der in September 2020 in Paris zwei Menschen mit einem Messerangriff schwer verletzte, ist auch ein Anhänger der Barelwi-Dawat-e Islami-Bewegung und Khadim Hussein Rizvi. Er gab in einem Bekennervideo an mit seiner Tat die Beleidigung des Propheten rächen zu wollen. In Pakistan wird er von TLP-Anhängern als einen Helden gefeiert. Radikalisierungstendenzen haben längst auch die Barelwi-Diaspora in Europa erreicht.

Mohammad Luqman

© Qantara.de 2020

Mohammad Luqman hat am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien der Universität Marburg Islamwissenschaft mit einem besonderen Forschungsschwerpunkt auf Islam in Südasien studiert. Er promoviert zurzeit an der Universität Frankfurt zum Verhältnis von Religion und Nationalismus in Pakistan.