Wortwitz und tiefgründige Reflexionen

Sie heißen Ertan, Alban, Ali und Kais und stammen aus der Türkei, aus Albanien, Marokko und Tunesien. Im Dokumentarfilm "Was lebst du?" hat Bettina Braun die vier muslimischen Jugendlichen portraitiert.

Interview von Marion Hetzel

​​Ort ihrer Zuflucht ist das Jugendzentrum Klingelpütz in Köln. Hier rappen sie gemeinsam oder holen sich Ratschläge bei den Sozialarbeitern.

Circa zwei Jahre lang hat die Regisseurin sie mit der Kamera begleitet. Während der Dreharbeiten wurde sie selbst Mutter eines Sohnes und lässt ihre Protagonisten auf sehr freundschaftliche Weise daran teilhaben.

Herausgekommen ist ein sensibles und gleichzeitig humorvolles Porträt mit großer Authentizität und gegenseitiger Vertrautheit. Wortwitz, Alltags- und Existenzsorgen wechseln sich immer wieder mit sehr tiefgründigen Reflexionen ab.

Bettina Braun erzählt mit ihrer einfühlsamen und respektvollen Sichtweise, die nicht immer leichte Gratwanderung dieser jungen Männer, die an der Schwelle des Erwachsenwerdens stehen und sich in diesem Kontext auch an den Unterschieden der verschiedenen Kulturkreise reiben.

Da sind auf der einen Seite ihre Jugendträume durch medial bedingte Klischeevorstellungen geprägt und die Erwartungen ihrer Väter an sie. Auf der anderen Seite stehen die ernüchternde und zuweilen frustrierende Realität in der gegenwärtigen Berufswelt und die Schul- und Sprachprobleme.

Dazwischen wird über den adäquaten Umgang mit dem anderen Geschlecht und mit Kindern reflektiert. Ganz nebenbei wird auch einem musikalisch unaufgeschlossenen Zuschauer etwas Wesentliches über die Natur des Rap vermittelt.

Auf eindruckvolle und unterhaltende Weise ist es dem Film gelungen, Einblicke in die Kultur und die innere Zerrissenheit dieser jungen Männer zu geben, denn trotz all dieser Probleme bleiben sie dank ihres Humors immer wieder "gut drauf".

Frau Braun, Ihnen ist es gelungen, mit dem Film eine Brücke von den Jugendlichen zu den deutschen Zuschauern zu schlagen. Wie sind Sie auf das Thema gekommen?

Bettina Braun: Im Prinzip waren es drei Dinge, die mich interessierten: Zum einen habe ich selbst mehrere Jahre in England gelebt und mich dort nie so ganz beheimatet gefühlt. Aufgrund dieser Erfahrung war das Thema Heimatgefühl und das Problem, mit zwei Kulturen zu leben, schon lange in meinem Kopf.

Dann habe ich auch in England beobachtet, dass die Integration nur teilweise stattgefunden hat und dass man z.B. auch dort viele Schwarze oder auch Inder ausschließlich in Gruppen zusammen gesehen hat. und ich war schon damals neugierig, wie diese Menschen eigentlich leben.

Zum anderen die Sprache, ich mag das etwas gefärbte Deutsch der Migranten sehr. So kam ich letztendlich zu dem Thema. Ich kannte das Jugendzentrum Klingelpütz und zwei Sozialarbeiter aus der Einrichtung und habe so dann die Jungs kennen gelernt.

Wussten Sie schon vorher, wie der Film aussehen wird?

Braun: Nein, nicht ganz genau, ich wusste nur sehr schnell, wen ich gerne dabei haben wollte, und dass ich deren Leben begleiten möchte. Ich wusste auch nicht, dass es so lange dauern würde.

Dann war es wie ein Experiment?

Braun: Das ist meine Art des Arbeitens. Ich mag Themen, die nicht von Anfang an eine Storyline vorgeben, also im Stil: einem Menschen ist das und das passiert. Ich suche meine Themen mehr in der Normalität. Meine Filme sind immer gefärbt durch meinen eigenen Blick auf die Welt. Ich möchte gar nichts Objektives erzählen.

Wie lange haben Sie jetzt an dem Film gearbeitet?

Braun: Eigentlich höre ich immer noch nicht auf, daran zu arbeiten. Sagen wir mal ungefähr zweieinhalb bis drei Jahre. Aber natürlich ist die Arbeit damit noch nicht abgeschlossen, jetzt kommen laufend die Pressearbeit und viele andere Termine dazu. Mir ist es auch noch wichtig, dass ich im Moment für die Jungs noch da bin, weil natürlich im Zusammenhang mit der großen Resonanz auf den Film verschiedene Emotionen entstanden sind. Es ist mir ein Bedürfnis, dass ich dann auch noch präsent bin und nicht einfach nur tschüs sage.

Der Film zeugt von ungemein großem gegenseitigen Vertrauen. Hatten Sie dieses Vertrauen von Anfang an?

Kais Setti: Das große Plus für Bettina war, dass sie einen Betreuer des Jugendzentrums kannte, den wir alle sehr gern mochten. Anfangs, als wir Jungs zusammen alleine waren, haben wir uns schon manchmal Horrorszenarien ausgemalt, was da für ein Film rauskommen wird.

Irgendwann dann aber kam das Vertrauen. Ich weiß nicht mehr genau, wann. Es hat sich eben entwickelt. Ich hatte mit Bettina bestimmte Dinge ausgemacht, was nicht drin sein darf. Damit ist sie sehr gut umgegangen und hat sich daran gehalten und dann habe ich ihr auch vertraut.

Der Film war eine Low-Budget-Produktion, die nicht vorfinanziert wurde. Sie haben ihn zunächst auf eigenes Risiko angefangen. Welche Bedenken gab es anfänglich von Seiten der möglichen Förderer?

Braun: Der Film ist über ein Jahr lang nicht verkauft worden.
Am Anfang kamen Antworten wie "Muslime und Rapper haben wir schon" oder "Diese Themen ziehen im Moment keine Quote" oder "Das ist nicht unsere Zielgruppe". Bis dann endlich eine Förderzusage vom Kleinen Fernsehspiel im ZDF kam.

Hatten Sie keine Befürchtungen, was die anderen in Ihrem Umfeld von Ihnen denken werden, wenn Sie sich so offenbaren?

​​Setti: Während des Drehens waren die Sachen ja abgesprochen und für mich war das dann auch alles erledigt. Es gab dann später einen Moment, als der Film fertig war, da habe ich mir Gedanken gemacht. Ich hatte dann ein Gespräch mit meinem Vater und der meinte, dass es eigentlich nicht wichtig sei, was andere von mir denken und dass mein Leben nun mal so ist, wie es ist. und das hatte mich dann beruhigt.

Welche Reaktionen kamen vom Publikum?

Setti: Viele Leute meinten, dass ihnen die Augen geöffnet wurden für eine Welt, die sie bisher nicht kannten und dass es zwischen deutschen und ausländischen Jugendlichen im Wesentlichen gar nicht so große Unterschiede gibt. In erster Linie sind wir ja auch alle Menschen, egal mit welcher Nationalität oder Religion wir aufgewachsen sind und wo wir herkommen.

Braun: Es waren vornehmlich positive Reaktionen. Was für mich sehr schön war: Nach der Berlinale kamen Leute auf mich zu und meinten, dass sie tief bewegt waren, dass sie gelacht und geweint hätten. Wenn man den Film nach zwei Tagen noch im Kopf hat, ist das meistens ein gutes Zeichen

Im Film sieht man fast keine deutschen Jugendlichen. Habt Ihr keinen Kontakt zu Deutschen?

Setti: Natürlich haben wir Kontakt zu Deutschen, wir leben ja hier. Aber die engeren Freunde sind Ausländer und eigentlich dann auch Muslime. Hier im Umkreis sind nun mal nicht so viele Deutsche. Und hier im Jugendzentrum sind sowieso die meisten Ausländer.

Woran könnte das liegen?

Setti: Es gab manchmal so Streitpunkte mit deutschen Jugendlichen. Ich meine damit nicht neugierige und offene Fragen, sondern wenn das schon so negativ gemeint ist.

Also ein Beispiel ist, wenn man dann gefragt wird, warum die Schwester oder die Cousine nicht in die Disko mitgehen dürfen. Als Jugendlicher mit muslimischem Hintergrund möchte man nicht so gerne darüber streiten, weil das eben so bei uns ist. Das macht es dann schwierig über den schulischen oder beruflichen Kontakt hinweg enge Freundschaften zu knüpfen. Ich bin in diese Kultur reingeboren und sehe mich nicht als jemand, der das großartig verändern wird.

Ist es für Sie ein großer Unterschied, ob man im Umfeld mit der Bibel oder mit dem Koran groß geworden ist?

Setti: Ja und nein, eigentlich gibt es zwischen Christen und Muslimen keine sehr, sehr großen Unterschiede, vielleicht abgesehen vom Schweinefleisch. Man soll in beiden Religionen seinen Mitmenschen helfen, seinem Körper nicht schaden, und keinen Sex vor der Ehe haben. Und das Fasten wie bei uns gibt es ja in ähnlicher Form bei den Christen auch.

Ich glaube der wesentlichere Unterschied ist, dass wir unsere Religion durch unsere Eltern mehr praktizieren, dagegen viele Jugendliche in Deutschland nicht mehr gläubig sind. Das finde ich schade, dass die christlichen Werte hier so verloren gehen.

Braun: Wobei das ja auch mit der Situation zusammenhängt, in der du lebst. Muslimische Jugendliche, die hier groß werden, praktizieren die Religion bei weitem nicht so streng wie ihre Eltern, und deren Kinder werden das auch wieder nicht so streng halten. Das hat sich in Deutschland bei uns auch seit zwei oder drei Generationen verändert.

Woran machen Sie Unterschiede fest?

Setti: Also, das kann man jetzt alles nicht verallgemeinern, ich gehe jetzt von mir aus. Zum Beispiel Respekt vor den Älteren. Wir würden nie vor unseren Eltern rauchen, da würde nicht mal ein Feuerzeug rumliegen. Weil wir sie damit nicht respektieren würden.

Warum kommen außer den Müttern der Protagonisten und Bettina so gut wie keine anderen Frauen oder Mädchen zu Wort in dem Film?

Braun: Zum einen waren die Jungs ja während der Dreharbeiten noch recht jung und viele so genannte 'Beziehungen' sehr flüchtig und schwer bis unmöglich zu dokumentieren. Im Klingelpütz selber sind kaum Frauen, sonst hätte ich sie selbstverständlich miterzählt.

Die festeren Bindungen waren zwei Beziehungen zu muslimischen Frauen. Warum diese Frauen nicht im Film vorkommen, beantwortet der Film selbst. Einer der Protagonisten sagt im Film: "Hey, gleich nimmst Du nicht meine Freundin auf. Wenn das raus kommt, dass wir zusammen sind, weißt Du aber nicht, was die für'nen Ärger bekommt. Das kannst Du Dir nicht vorstellen."

Setti: Ich denke, es lag bei mir und den Jungs daran, dass wir in einer Phase und in einem Alter waren, wo man halt oft die Freundin wechselt, und deswegen wäre es aus taktischen Gründen nicht gut gewesen, mit den Mädchen vor der Kamera aufzutreten.

Außerdem kommt auch noch der Aspekt der Eltern mit
dazu. Da wir uns schon dachten, dass unsere Eltern den Film irgendwann sehen werden, wollten wir dieses Thema einfach vermeiden.

Hat sich nach dem Film etwas für Sie verändert?

Setti: Nein. Eine Schauspielausbildung wollte ich vorher und während des Films machen, und das mache ich jetzt auch. Ich bin momentan auf der Schauspielschule in Aachen, die ich sehr gut finde und ich bin gerade fast nur mit Deutschen zusammen.

Braun: Vielleicht hat sich doch was für Dich verändert, und du hast bei mir und durch den Film jetzt gesehen, dass sich Durchhalten rentieren kann.

Setti: So gesehen, ja.

Was war Ihnen darüber hinaus sehr wichtig bei dem Film?

Braun: Was Migration eigentlich für die Menschen bedeutet.
Wenn wir hier in Deutschland Leute aus anderen Ländern aufnehmen, dann müssen wir auch einen Schritt auf sie zugehen. Wenn man in ein Land kommt, in dem man die Sprache nicht spricht und die Gepflogenheiten nicht kennt, ist doch klar, dass man sich erst mal vorwiegend mit den eigenen Landsleuten zusammentut. Da müssen wir schon einen Schritt darauf zugehen.

Herr Setti, Sie sprechen von sich selbst immer als Ausländer. Als was fühlen Sie sich denn?

Setti: In Tunesien bin ich der Deutsche. In Deutschland bin ich der Tunesier. Mein Land bin ich selbst!

Interview: Marion Hetzel

© Qantara.de 2005

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