Lebenshilfe in Zeiten des Umbruchs

Die Schriften des deutsch-amerikanischen Philosophen Erich Fromm (1900-1980) erfreuen sich in der arabischen Welt wachsender Beliebtheit. Warum das so ist, hat Claudia Mende Hamid Lechhab gefragt, der Fromms Werke ins Arabische übersetzt hat.

Von Claudia Mende

Herr Lechhab, wie sind Sie zu Erich Fromm gekommen?

Hamid Lechhab: Die Verbindung von Philosophie und Psychologie bei Fromm hat mich interessiert und er hat für mich auch eine Bedeutung wegen seiner Sprache. Fromm hat mich motiviert, Deutsch zu lernen. Zu Beginn meines Interesses gab es noch wenige Übersetzungen von Fromm ins Arabische und die Art und Weise, wie er schreibt, hat mich einfach fasziniert. Fromm ist nicht unbedingt einfach zu verstehen, aber seine Inhalte sind wissenschaftlich relevant und trotzdem in einer gut verständlichen Sprache geschrieben und das hat mich auch zum Deutschlernen motiviert.

Wegen Fromm haben Sie Deutsch gelernt?

Lechhab: Mein Interesse fing schon in Marokko an. Ich habe in Marokko Psychologie und Philosophie studiert und im Rahmen meines Studiums gab es Vorlesungen, in denen auch ein oder zwei Texte von Fromm vorkamen. Sie haben mein Interesse geweckt, aber mehr war das damals noch nicht. Dann habe ich während meiner Promotion in Frankreich einige Bücher von Fromm gekauft, aber ich wollte mehr lesen.



Da es auf Französisch nicht mehr gab, habe ich mir gesagt, ich muss wohl Deutsch lernen, um Fromm im Original zu lesen. Nach einem Semester Deutsch in Österreich habe ich dann versucht, Erich Fromm im Original zu lesen.

Cover von "Die Bedeutung von Erich Fromm für die Gegenwart. Rainer Funk im Gespräch mit hamid Lechhab", erschienen bei Zeuys, Jan 2023; Quelle: Verlag
Gespräche über Erich Fromm: Im April 2022 hat Hamid Lechhab für die Zeitschrift Al Massaa in Casablanca eine 23-teilige Interviewreihe mit Rainer Funk, dem Nachlassverwalter von Erich Fromm, geführt. In ihr werden wichtige Themen aus Fromms Werk wie zum Beispiel sein Verständnis von Religion, von der Freiheit des Individuums oder sein Begriff des Sozialcharakters angesprochen. Die Reihe wurde dann auf Deutsch vom Zeuys Verlag und auf Arabisch vom jordanischen Verlag als Buch herausgebracht wurde.

Nach einem Semester?

Lechhab: Na ja, nach fünf Jahren konnte ich die Sprache bewältigen und dann habe ich Fromm auch richtig verstanden.

Koloniale Muster im Fach Philosophie

Was hat Sie so fasziniert?

Lechhab: Die Art und Weise, wie Fromm schreibt, aber auch die Themen. Fromm ist sehr vielseitig, außerdem ist er kein oberflächlicher Geist, er dringt tief in die Materie ein zum Beispiel bei seinem Konzept von Freiheit, bei den Themen Religion oder Konsum. Er redet nicht herum, sondern geht direkt und ohne Schachtelsätze zur Sache, klar und deutlich. Das fand ich gut.

Aber es kommt noch etwas anderes hinzu. Als ich die deutsche Sprache entdeckt habe, fiel mir auf, welche Defizite wir in Marokko durch die französische Kolonialzeit geerbt haben. Der Okzident, das war für uns Frankreich.



Wir haben im Studium fast nur französische Philosophen kennengelernt. Als ich später in Frankreich studierte, habe ich gemerkt, dass uns die deutsche Philosophie komplett fehlt. Für mich ist es ein Lebensprojekt, deutsche Philosophie und Psychologie in der arabischen Welt bekannt zu machen.

Sie haben im April 2022 für die Zeitschrift Al Massaa in Casablanca eine 23-teilige Interviewreihe mit Rainer Funk, dem Nachlassverwalter von Erich Fromm, geführt, die dann von einem jordanischen Verlag und auf Deutsch als Buch herausgebracht wurde. Wie kam es zu dieser Serie über die zentralen Thesen Fromms und seine Bedeutung für die Gegenwart?



Lechhab: Diese Interviewreihe hat eine lange Vorgeschichte. Seit dem Jahr 2000 etwa habe ich jedes Jahr einige Rezensionen zu Büchern von Fromm geschrieben, die ich ins Arabische übersetzt und in marokkanischen Zeitungen und Zeitschriften untergebracht habe.



Ich habe auch einige Interviews mit Rainer Funk, dem Nachlassverwalter von Fromms Werk, für verschiedene marokkanische Zeitungen geführt und diese Kontinuität hat sich bewährt. Jedes Jahr habe ich fünf oder sechs Texte über Fromm in Marokko veröffentlicht.

Meilenstein für die Fromm-Rezeption

Ein Meilenstein für die Fromm-Rezeption in Marokko war eine große Tagung im schönen Konferenzsaal-Batha in der Universität Fes, in Zusammenarbeit mit der Stadt Fes, dem Goethe-Institut und der österreichischen Botschaft in Rabat, die ich mitorganisiert habe. Ich wollte der Universität Fes etwas zurückgeben, was ich als Student von ihr bekommen hatte. Es kamen 75 Fromm-Experten aus aller Welt zu der Tagung und ca. 40 Marokkaner. Die Tagung war wichtig, um Fromm in Marokko bekannt zu machen.

Es war das erste und bisher letzte Mal, dass die internationale Erich-Fromm-Gesellschaft eine Tagung in einem muslimischen Land organisiert hat. Weil Marokko in den Humanwissenschaften die Nase vorn hat in der arabischen Welt, haben auch andere Länder in der Region über Marokko von Fromm gehört.



Damals war auch Abdelhadi Boutaleb, der Berater des damaligen und des jetzigen Königs mit dabei, er ist inzwischen verstorben. Die Ergebnisse wurden auf Arabisch und Deutsch dokumentiert und an Universitäten in der ganzen Region verschickt, es wurde aber auch noch nachbestellt.

Inwiefern hat Marokko in den Humanwissenschaften die Nase vorn?

Lechhab: Das betrifft die Fächer Philosophie, Psychologie und Soziologie. Seit Jahren wird Philosophie als Fach an allen marokkanischen Universitäten angeboten, das war früher nicht so, zuerst gab es das Fach nur in Fes und an einer weiteren Universität. Deshalb gibt es heute in Marokko zahlreiche Veröffentlichungen im Fachbereich Philosophie. Das ist nicht in allen arabischen Ländern so, es gibt auch Länder, in denen Philosophie als Fach bisher nicht erwünscht war, zum Beispiel am Golf, aber das ändert sich jetzt langsam.

Der österreichisch-marokkanische Übersetzer Hamid Lechhab; Foto: privat
Der marokkanische Autor und Übersetzer Hamid Lechhab hat aus Begeisterung über Erich Fromm Deutsch gelernt. Nach seinem Philosophie-Studium in Marokko und Frankreich entdeckte er die deutschsprachige Philosophie: "Wir haben im Studium fast nur französische Philosophen kennengelernt. Als ich später in Frankreich studierte, habe ich gemerkt, dass uns die deutsche Philosophie komplett fehlt. Für mich ist es ein Lebensprojekt, deutsche Philosophie und Psychologie in der arabischen Welt bekannt zu machen.“



Letztes Jahr gab es zum Beispiel einen Kongress über Philosophie in Saudi-Arabien, an dem vor allem marokkanische Wissenschaftler beteiligt waren. Tunesien ist in dem Punkt mit Marokko vergleichbar, in Algerien gibt es ein wenig Philosophie, Libanon war mal gut, Ägypten hat einen ganz anderen Zugang, geprägt von der angelsächsischen Tradition, vor allem dem Positivismus. Eine Ausnahme war der bekannte Philosoph Hassan Hanafi von der Cairo University. Bis vor ca. 25 Jahren hat die ägyptische Philosophie die philosophische Landschaft in den arabischen Ländern stark geprägt.

Befreiung innerhalb der Religion – nicht von Religion

Eine ganze Reihe mit mehr als 20 Kurzinterviews, das ist sehr umfangreich. Wie erklären Sie sich das Interesse an Fromm?

Lechhab: Die Reihe ist während des Ramadan erschienen, das hatten wir mit der Redaktion vereinbart, denn dann wird mehr gelesen als sonst und das war natürlich schön, weil ich den Eindruck hatte, das Thema kommt auch an. Es gab zahlreiche Leserzuschriften und ich hatte den Eindruck, dass auch Menschen, die ich als konservativ einstufen würde, Interesse am kritischen Denken bei Fromm hatten.



Ich glaube, das liegt sehr stark daran, wie Fromm mit dem Thema Religion umgeht. So kann auch ein eher konservativer und religionsorientierter Mensch Interesse an den Gedanken Fromms finden.

Fromm kritisiert die orthodoxen Verengungen von Religion, wie er sie aus seinem eigenen jüdischen Elternhaus kannte. Ist das interessant?

Lechhab: Religion ist ein zentrales Thema bei Fromm, aber seine Kritik ist stets sachlich und nie pauschal. Fromm hat nie gesagt, dass Religion per se etwas Schlechtes ist. Für viele Araber ist das ein wichtiger Unterschied, anders als die ideologische Propaganda aus dem Westen, die Muslime müssten zwischen Staat und Religion trennen.



Solche Forderungen kommen in der arabischen Welt nicht gut an. Fromm hat einerseits gesagt, was die drei monotheistischen Religionen fordern, sei gegen die menschliche Natur, aber andererseits hat er auch geschrieben, der Mensch brauche Religion, das war für ihn klar. Diese Position kommt in der Region besser an als die Position der westlichen Moderne und der französischen Revolution, die Religion komplett ablehnen.

Bei Fromm findet sich eine Suche nach einer Form von Religion oder Spiritualität jenseits dogmatischer Engstirnigkeit.

Lechhab: Es geht Fromm um eine Befreiung des Menschen innerhalb der Religion, er will sie anders verstehen, das hat Fromm systematisch für seine eigene Religion, das Judentum, analysiert. Er hat die anderen Religionen nie attackiert, er hat nur über seine eigene religiöse Herkunft gesprochen und so auch den Muslimen Instrumente an die Hand gegeben, um den Islam zu hinterfragen, ohne ihn komplett abzulehnen.



Er bietet eine Alternative an. Fromm hat seine eigene Religion systematisch und wissenschaftlich hinterfragt und diese Methodik lässt sich auch auf andere religiöse Traditionen anwenden, so verstehe ich das.

Mit Studenten in Marokko – ich bin jedes Jahr zwei bis dreimal zu Vorträgen dort – diskutiere ich regelmäßig darüber, wie Fromm Religion verstanden hat und wie man sein Verständnis einer humanistischen Religion im Islam umsetzen kann. Es geht also darum, nicht das Alte zu zerschlagen, sondern es neu zu verstehen.

Freiheit von äußeren Zwängen: Das ist top aktuell

Ein wichtiges Thema bei Fromm ist auch die Freiheit des einzelnen von äußeren Zwängen, vor allem in seinem Werk „Die Furcht vor der Freiheit“ von 1941. Ist das heute stärker ein Thema in der arabischen Welt, in der eine einst kollektive Ordnung dabei ist zu zerbrechen?

Lechhab: Bei Fromm ist Freiheit nicht nur politisch zu verstehen, sondern auch individuell. Das Thema betrifft jeden einzelnen Menschen, vor allem dort, wo sie sich von Bevormundung aller Art lösen wollen. Es geht Fromm um eine Freiheit von diesen äußeren Zwängen durch Tradition, Religion, die Macht der Clans und der Diktatoren und das ist gerade in der arabischen Welt top aktuell.

 



 

Heute sehen wir auch hier eine zunehmende Individualisierung, aber sie ist noch eine neuere Entwicklung, begonnen nicht zuletzt durch ökonomische, aber auch die technologischen Veränderungen. Doch diese Entwicklung macht auch vielen Menschen Angst, weil die Voraussetzungen für Individualisierung nicht so bestehen wie in Europa; es gibt nicht die Infrastruktur und das Bildungssystem, die dazu passen.

In den ökonomisch schwachen arabischen Ländern sind die materiellen Voraussetzungen nicht gegeben. Dort sind Menschen materiell noch auf ihre Familien angewiesen und können sich daher nicht von ihnen befreien. Die Familie spielt zwar nicht mehr die zentrale Rolle wie noch vor 25 Jahren, das ist ein Fakt, aber trotzdem ist sie für den einzelnen wichtig.

Solche Prozesse dauern in der Regel länger.

Lechhab: Ja, das braucht Zeit. In den Großstädten, wo Menschen sich eine eigene Existenz aufbauen können, ohne materiell auf die Eltern angewiesen zu sein, ist selbstbestimmtes Leben kein Problem. Dort gibt es mittlerweile Kleinfamilien fast wie in Europa. Aber das gilt nur für die Großstädte und für bestimmte soziale Schichten, alle anderen können das nicht. Für viele Menschen ist das ein großes Problem. Sie wollen ein eigenständiges Leben führen, können es aus wirtschaftlichen Gründen aber nicht.

Die Jugend sucht nach einem eigenen Weg

Die Freiheit des Individuums von äußerlichen Normen ist bei Fromm ein zentraler Gedanke. Trifft das einen Nerv?

Lechhab: Definitiv. Wie Fromm das im einzelnen konzipiert mit seinem Begriff der Authentizität, das ist nicht einfach zu verstehen, aber es ist genau das, was die jungen Menschen in den arabischen Ländern suchen. Sie müssen Ideen der Älteren übernehmen, ein eigener Weg ist ihnen häufig versperrt und das frustriert massiv. Deswegen sind die Ideen von Fromm in der arabischen Welt willkommen.

Cover von Erich Fromms "Haben oder Sein" auf Arabisch übersetzt von Hamid Lechhab; Quelle: Verlag
Populär auch in der arabischen Welt: Erich Fromms "Haben oder Sein“, das Kultbuch der 68er-Generation, 1976 erschienen, wurde von Hamid Lechhab ins Arabische übersetzt. Wenn sich selbst die Mittelschichten vieles nicht leisten können, ist es wichtig, "sich von diesem Kaufzwang zu befreien, eine eigene Haltung dazu zu entwickeln, damit ich sagen kann, ich brauche das nicht oder ich kann es mir nicht leisten und das ist keine Schande,“ sagt Lechhab. "Deshalb sind gerade jene Schriften Fromms, die sich mit dem Thema Konsumkritik beschäftigen, in arabischen Ländern besonders populär.“

In welchen arabischen Ländern - über Marokko hinaus - sehen Sie ein besonderes Interesse an Fromm?

Lechhab: Das Interesse an Fromm ist zurzeit im Irak und in Syrien besonders groß, beides Länder, die sich von Diktatoren befreien wollten. Die Welt ist klein geworden, man kann Fromm-Texte (meist auf Englisch) auch im Netz finden.



Warum Syrien und Irak? Das liegt auch an der politischen Situation: Fromms Ideen über Freiheit, Religion, aber auch zum Frieden sind den Menschen gerade in diesen Ländern wichtig.



Das gilt übrigens auch für Iran, aber darüber weiß ich nicht allzu viel. Fromm hat etwas geschafft, was vielen anderen Philosophen nicht gelungen ist: Seine Gedanken haben über Jahre eine Relevanz behalten, weil er sie verständlich formulieren konnte.

Eines der populärsten Bücher Fromms im Westen ist "Haben oder Sein“, in dem es auch um Konsumkritik geht. Ist dies in der arabischen Welt überhaupt ein Thema, wo viele Menschen kaum über die Runden kommen?

Lechhab: Das ist sogar sehr relevant, gerade bei denen, die wenig oder nichts haben, weil sie eben nicht so konsumieren können wie im Westen. Aber viele westliche Ketten, vor allem französische und spanische Supermärkte bis hin zu globalen Textilmarken, sind in der arabischen Welt genauso präsent wie in Europa.



Wenn jetzt jemand zum Beispiel einen kleinen Gemüseladen besitzt, kann er sich diese Konsumgüter nicht leisten. Das macht die Menschen auf Dauer krank. Sie gehen in die Supermärkte, sehen das ganze Angebot und kommen mit einem oder vielleicht zwei Artikeln wieder raus, weil sie sich nicht mehr leisten können.

Das gilt auch für die Mittelschichten und das drückt auf die Seele. Es ist wichtig, sich von diesem Kaufzwang zu befreien, eine eigene Haltung dazu zu entwickeln, damit ich sagen kann, ich brauche das nicht oder ich kann es mir nicht leisten und das ist keine Schande. Deshalb sind gerade jene Schriften Fromms, die sich mit dem Thema Konsumkritik beschäftigen, in arabischen Ländern besonders populär.

Interview: Claudia Mende

© Qantara.de 2023

Hamid Lechhab, geb. 1962 in Marokko, studierte Psychologie und Pädagogik zuerst in Marokko und promovierte dann in Straßburg. Seit 1990 lebt er in Vorarlberg, Österreich. Lechhab übersetzt philosophische Werke aus dem Deutschen ins Arabische, neben Fromm u.a. den Briefwechsel zwischen Heidegger und Hanna Arendt, Werke der österreichischen Philosophen Josef Seifert und Hans Köchler, Schopenhauers Kritik an Kant. 2019 erhielt er für seine Übersetzungen den Gerhard-von-Cremona Ehrenpreis in Toledo.