Wegbereiter des modernen Ägypten
Taha Husains Autobiografie Al-Ayyam (dt. Kindheitstage, Aufbau Verlag 1973) gehört zu den prominentesten arabischen Autobiografien. Warum dann eine neue Biografie über Taha Husain? Die Frage sollte vielmehr lauten: Wie kann man überhaupt eine Biografie schreiben, die ihrem Protagonisten und seiner Zeit gerecht wird? Der Autor Hussam Ahmed, Historiker an der Maynooth University in Irland, hat sich dieser Herausforderung gestellt. In der Einleitung zu seinem Buch The Last Nahdawi (2021) (dt. Der letzte Reformer) geht er zunächst auf den apologetischen Ton ein, mit dem viele Historikerinnen und Historiker biografische Werke vorlegen. Als wäre die Biografie als Genre historisch weniger wertvoll als andere Formen der Geschichtsschreibung.
Die sogenannte Periodisierung, die Einteilung der Geschichte in aufeinander folgende Zeitalter und die Einordnung einzelner Ereignisse in den größeren historischen Kontext, zählt zu den Hauptaufgaben von Historikerinnen und Historikern. Biografien zwingen sie dazu, dieser Aufgabe in dem durch Geburts- und Todesdaten einer Persönlichkeit vorgegebenen Zeitrahmen gerecht zu werden.
Durch den Fokus auf das Individuum wird oft entweder der größere Kontext vernachlässigt oder die Schreibenden verzerren die Geschichte, indem sie ihre Protagonisten als Repräsentanten einer ganzen Epoche, Institution oder Generation zeichnen. Es ist genau dieser Spagat, der Hussam Ahmed gelingt: Seine Biografie von Taha Hussain behandelt die Interaktion zwischen Individuum und Umgebung und nimmt dabei das Institutionelle und Strukturelle in den Blick, ohne sich in Allgemeinplätzen zu verlieren und ohne den Bogen großer Narrative zu überspannen, die sonst neben sich wenig Platz für das Individuum lassen würden.
Abgesehen davon, dass es immer noch viel zu wenige Biografien von arabischen Persönlichkeiten gibt, liefert The Last Nahdawi selbst zahlreiche weitere Gründe, warum diese Biografie wichtig ist. So macht der Autor bereits auf den ersten Seiten klar, dass wir Taha Husain womöglich weniger gut kennen, als bisher angenommen. Die Bewertungen von Taha Husains Person und Wirken könnten unterschiedlicher nicht sein und bewegen sich zwischen extremen Narrativen: Einmal ist er ein kultureller Gigant, der die Fackel der Aufklärung vor sich her trägt, das andere Mal ist er der häretische Autor von Über die vorislamische Dichtung (deutsch 1926 erschienen) der mit seinem Schreiben zum Verräter an seiner Religion und Gesellschaft wird.
Schriften voller Widersprüche
Auch vor den Kritikern Husains scheut sich das Buch nicht – so stellt es eine Reihe von kritischen Stimmen vor, angefangen bei der Generation junger, linker Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die in Taha Husain einen bürgerlich-liberalen Intellektuellen im negativen Sinne sahen, bis hin zu moderneren, postkolonialen Ansätzen, die Husain vorwerfen, er hätte sich allzu leichtherzig den abwegigen Narrativen des Westens hingegeben.
All diese Kritik ist berechtigt, denn Husains Schriften sind voller Widersprüche. Diese werden mit Blick auf die Kluft zwischen seinen theoretischen Vorstellungen von Kultur und seinem Handeln in der Praxis besonders deutlich.
The Last Nahdawi liefert keine Ideengeschichte, wie man sie aus anderen Werken zur arabischen Kulturgeschichte kennt, sondern eine Geschichte kultureller Handlungen, die ihren Protagonisten Taha Husain in zahlreichen Facetten zeichnet: als Staatsmann, Bürokrat, Politiker, Mitglied der Akademie der Arabischen Sprache, Wegbereiter der kostenlosen Bildung für Alle, als Dekan der Universität Alexandria, Gründer zahlreicher akademischer und kultureller Einrichtungen.
Vor diesem Hintergrund stützt sich das Buch nicht nur auf Husains persönliche Dokumente, sondern auch auf Aktenbestände wie etwa Protokolle aus Verwaltungsgremien sowie Kabinetts- und Universitätssitzungen, auf Gehaltsabrechnungen und die Haushaltspläne Dutzender von Regierungs- und Verwaltungsbehörden.
Taha Husain sah "die Politik als das einzige Mittel, um Institutionen für die Produktion von Wissen und die Herstellung von Kultur aufzubauen und das Land auf diesem Weg in die nationale Unabhängigkeit zu führen“.
Eine gewisse Paradoxie enthält Taha Husains romantische Vorstellung von Kultur, die ihrem Wesen nach reiner, universaler und dauerhafter als die Politik sei. Deswegen verteidigte er einerseits eine strikte Trennung der beiden Sphären, verfolgte andererseits jedoch praktisch die Devise, dass Politik das einzige Mittel sei, um Institutionen zur Wissensproduktion und für die Kultur aufzubauen. Auf diese Weise sollte Ägypten seine Unabhängigkeit erlangen, um schließlich auf Augenhöhe mit Europa zu operieren.
Kulturelle Emanzipation vom übermächtigen Westen
Husain hatte ein pragmatisches Bewusstsein für die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten. Dies veranlasste ihn, als einen der letzten Vertreter der sogenannten Nahda (Erneuerung), an der Utopie von der Kultur als möglichem Weg in die Emanzipation vom übermächtigen Westen festzuhalten. Als Bildungsminister stellte Taha Husain im Jahr 1950 mit dem Beschluss zur Abschaffung des Schulgelds für Sekundarschulen die historischen Weichen für kostenlose Bildung in Ägypten.
Er war der Überzeugung, dass der Einsatz für Bildung und das Ringen um Demokratie ein und derselbe Kampf seien. Für den Biografen Hussam Ahmed ist die Revolution, die das ägyptische Bildungswesen zwischen 1922 und 1952 erfuhr, noch nicht ausreichend untersucht. Stattdessen wurde die gesamte Periode von den Historikern seinerzeit als komplette Verfehlung diffamiert – aus einem Mangel an Objektivität heraus, wie Hussam Ahmed diagnostiziert.
Ein weiteres Paradox, das der Autor in The Last Nahdawi untersucht, bezieht sich auf das konfliktreiche Verhältnis zwischen Husain und Frankreich. Zwar sah sich Husain durch seine Gegner mit dem Vorwurf der Verwestlichung und einer duckmäuserischen Haltung gegenüber der französischen Kultur konfrontiert, doch seine politische Biografie offenbart eine ganz andere Erzählung. The Last Nahdawi nimmt die Kulturpolitik der Nasser-Ära genauer in den Blick. Sie wollte den ägyptischen Einfluss mit einer antikolonialen Agenda über die Landesgrenzen hinaus ausweiten. So war die Kulturpolitik unter Präsident Nasser (1954 bis 1970) eine Fortsetzung des Kurses der ägyptischen Regierungen der 1930er und 1940er Jahre, zu dem Taha Husain führend beigetragen hatte.
1950 eröffnete Taha Husain das Institut für Islamische Studien in Madrid. In dieselbe Zeit fiel die von der ägyptischen Regierung unterstützte Einrichtung eines nach Muhammad Ali (De-facto Herrscher Ägyptens von 1805 bis 1848) benannten Lehrstuhls für Arabische Sprache und Literatur an der Universität in Nizza und eines weiteren Lehrstuhls in Athen. Darüber hinaus war er bestrebt, ein Institut für Arabistik in Istanbul zu gründen und ägyptische Professoren an die Universität Ez-Zeitouna in Tunesien zu entsenden.
Auf Konfrontation mit Frankreich
Im selben Jahr stellte Husain ein ambitioniertes Projekt vor, welches die Ausweitung des kulturellen Einflusses von Ägypten in Nordafrika und speziell im Maghreb vorsah - zuvor hatte man sich in diesem Vorhaben auf die Levante beschränkt. Zwei Jahre lang versuchte Husain, dieses Projekt voranzutreiben und ägyptische Kulturzentren und Bildungsinstitute in Tanger, Rabat, Algier und Tunis zu etablieren.
Doch die ägyptische Agenda zur Stärkung des arabischen Einflusses wurde von den Kolonialmächten in Nordafrika zunehmend als Bedrohung wahrgenommen. Mit zwiespältigen Gefühlen und Besorgnis blickten die Franzosen auf die Projekte Husains. Ende 1951 brach der Konflikt mit Frankreich offen aus. Der Konflikt gipfelte darin, dass Husain die ägyptische Regierung dazu drängte, die Genehmigungen für französische Archäologenteams in Ägypten auszusetzen und deren Expeditionsleiter aus ihren Unterkünften zu verweisen. Husain plädierte dafür, Einreisegesuche von französischen Staatsbürgern zu Kultur- und Bildungszwecken größtenteils abzulehnen und drohte sogar mit der Schließung aller französischer Schulen im Land.
Ihr Ende fand diese Konfrontation mit Aufständen und einem Großbrand in Kairo im Jahr 1952. Im Juli stürzten die Freien Offiziere unter der Führung von Gamal abdel Nasser und General Mohammed Naguib König Farouq I. und seine Regierung, in der Husain ein Ministeramt innehatte. Das letzte Kapitel des Buches befasst sich schließlich mit der darauffolgenden Phase in Ägypten und Husains ambivalentem Verhältnis zum neuen Regime der Freien Offiziere.
So erfüllt The Last Nahdawi sein Versprechen: Über die Biografie des Staatsmannes Taha Husain hinaus präsentiert es dem Leser eine Geschichte der damals jungen parlamentarischen Demokratie in Ägypten und der Entwicklung ihrer Institutionen. Auf anschauliche Weise legt es die Wurzeln der Politik unter Nasser offen, die mit staatlich garantierter kostenloser Bildung bis hin zur einer antikolonialen Kulturdiplomatie das moderne Ägypten prägte.
© Qantara.de 2022
Hussam Ahmed, "The Last Nahdawi - Taha Husain and Institution Building in Egypt“ ist 2021 auf Englisch bei Stanford University Press erschienen.