"Ich will vor allem Geschichten erzählen“
"Geduld und Humor“, so lautet ein arabisches Sprichwort, "sind zwei Kamele, mit denen man jede Wüste durchqueren kann“. Es steht am Anfang von Rafik Schamis Roman "Sophia, oder der Anfang aller Geschichten“. Das Sprichwort hängt auch in seinem Büro, denn es bedeutet ihm viel.
Rafik Schami lebt und schreibt seit einem halben Jahrhundert im deutschen Exil. Seine Heimat Syrien kann er nur noch in seinen Geschichten besuchen. Seine mehr als 70 Bücher wurden mit unzähligen Preisen ausgezeichnet und in über 33 Sprachen übersetzt. Seine Lesungen füllen heute große Säle.
1946 wird er als Suheil Fadel, wie er mit bürgerlichem Namen heißt, in eine christlich-aramäische Familie in Damaskus geboren. Er studiert dort Chemie, Mathematik und Physik, gründet 1966 die kritische literarische Wandzeitung "Al-Muntalak" (Der Ausgangspunkt), die 1970 verboten wurde. Im gleichen Jahr flüchtet er vor dem Militärdienst und einem Leben unter der Zensur mit einem Koffer voller Manuskripte über den Libanon nach Heidelberg. Er lernt Deutsch und führt sein Studium fort. 1979 erhält er den Doktor im Fach Chemie.
Doch sein Herz hängt an den Erzählungen aus seiner Heimat Syrien, an den Straßen und Gerüchen seiner Kindheit im christlichen Stadtteil Bab Touma von Damaskus. In seinen Erzählungen kehrt er zurück an diese Orte, die er selbst nicht mehr besuchen kann und nennt sich fortan Rafik Schami, "Damaszener Freund“.
Zu dem Zeitpunkt ahnt er nicht einmal, dass er eines Tages die arabische Kunst des Fabulierens in die deutschsprachige Literatur einbringen und etliche Bestseller auf Deutsch veröffentlichen würde. Es ist eher die arabische Exilliteratur, die ihn seit seiner Schulzeit in Damaskus fasziniert, so wie sie etwa in den Vereinigten Staaten entstanden ist. Er orientiert sich an arabischen Schriftstellern, die von den Kolonialmächten vertrieben wurden. Der im Libanon geborene und später in die USA emigrierte Philosoph und Dichter Khalil Gibran (1883-1931) ist der berühmteste unter ihnen.
Rafik Schami denkt, er werde ein ähnliches Schicksal haben und sieht sich als arabischer Exilautor. "Aber die Zeiten unter den arabischen Diktatoren sind schlimmer, als sie es jemals unter den osmanischen Sultanen waren“, sagt Schami. "Heute wird man, wenn man kein Anhänger eines Regimes sein will, überall verboten.“ Kein Verlag in der arabischsprachigen Welt will seinen Roman "Erzähler der Nacht“ unzensiert veröffentlichen.
Und so eignet sich Schami akribisch das literarische Deutsch an. "Zwei Jahre lang habe ich die besten deutschen Romane von Goethe bis Thomas Mann Wort für Wort mit der Hand abgeschrieben, bis ich das literarische Deutsch verinnerlicht hatte“, erinnert er sich.
"Danach begann ich vorsichtig, meine auf Arabisch geschriebenen Geschichten, Märchen und Romane neu ins Deutsche zu übertragen.“ Mit Erfolg. Der Roman "Erzähler der Nacht“, 1989 bei DTV erschienen, wird sein Durchbruch und ein Welterfolg. Von nun an schreibt er alle seine Romane in deutscher Sprache. "Auf Deutsch zu erzählen“, erzählt er, "ist für mich biografisch mit der Freiheit verbunden, so zu schreiben und zu erzählen, wie die Geschichte bzw. der Roman es verlangen und nicht so, wie der Scheich der Sippe oder die Zensur der Diktatur es haben wollen.“
Faszinierende Erzählreisen
Seine Lesungen haben wenig mit einer Literaturveranstaltung im klassischen Sinn gemeinsam. Hier sitzt kein Autor hinter einem Tisch unter einer Leselampe im abgedunkelten Raum. Stattdessen nimmt der begnadete Erzähler mit der runden Brille und der bestickten Weste seine Zuhörer seit 40 Jahren mit auf faszinierende Erzählreisen, die für viele zum unvergesslichen Erlebnis werden. „Ohrfilme“, nennt er seine Vorträge.
Er führt sein Publikum durch die Gassen von Damaskus, er lässt sie sehen, hören, schmecken und riechen, was seine Protagonisten erleben. Eine Geschichte gebiert die nächste, Türen zu Schauplätzen und Nebenschauplätzen öffnen sich unerwartet, in einer schier endlosen Abfolge von immer neuen Episoden. Das deutschsprachige Publikum liebt diese mündlich vorgetragenen Geschichten Schamis.
Seit dem Beginn des Bürgerkriegs in Syrien ist Schami aber auch immer mehr zum Gesicht Syriens und zum Botschafter seiner verlorenen Heimat geworden. Seine Geschichten aus Damaskus nicht nur auf Deutsch zu schreiben, sondern frei auf Deutsch einem Publikum vorzutragen sei für ihn kein Spagat, sondern eine Bereicherung, sagt er, sowohl für ihn als auch für die deutsche Sprache.
"Ich habe gelernt, wie Sätze, die im Arabischen 'normal' klingen, in der wörtlichen Übersetzung kitschig wirken. Die deutsche Literatur hat durch mich Geschichten erhalten, die es vorher noch nie gab.“
Für Demokratie und Freiheit
Rafik Schami ist kein Autor im Elfenbeinturm. Immer wieder spricht er sich für Demokratie und Freiheit aus. Unerschrocken verurteilt er die Diktatoren dieser Welt und engagiert sich zum Beispiel für die Aussöhnung von Israelis und Palästinensern. Er nimmt auch bei seiner Kritik am Assad-Clan in Syrien kein Blatt vor den Mund und macht den Machthaber für Gräueltaten wie die Giftgasangriffe und Fassbomben auf die Zivilbevölkerung verantwortlich.
Genauso kritisiert er die deutsche und die europäische Außenpolitik für ihre Doppelstandards. "Dieser Politik fehlt die Glaubwürdigkeit. Die Politiker sprechen mit zwei Zungen, eine Version ist für die hiesige Bevölkerung gedacht und die andere gebrauchen sie beim Waffenhandel mit den Schurken der arabischen Welt.“
Doch er mischt sich auch in aktuelle Fragen in Deutschland ein, etwa zum Rechtspopulismus. Das Erstarken der Rechten in Deutschland ärgere ihn zwar, sagt er. Aber er habe großes Vertrauen, dass die Demokratie in Deutschland ihre Feinde besiegen werde. "Spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015 haben Populisten und Salonprovokateure den Boden für diese Querdenker, Antisemiten und andere Rechtsradikale geebnet“, so Schami. "Was mich allerdings erstaunt, ist wie sanft die deutschen Gerichte mit den Rechtsradikalen umgehen.“
Das Engagement ist für ihn selbstverständlich. Dazu verpflichte ihn die Freiheit, die er genieße. Und auch gute Literatur könne einen Beitrag zu einer besseren Welt leisten und Menschen sensibilisieren. Jedoch geschehe dies langfristig und langsam. "Ich möchte vor allem gute Geschichten erzählen und meine Leserinnen und Leser unterhalten. Gelingt es mir, ihnen das Leben in Damaskus glaubwürdig darzustellen, dann bin ich sehr glücklich.“
Es ist sein Hobby zu hoffen
Ob Rafik Schami seine syrische Heimat jemals wiedersehen wird, ist heute fraglich. Aber er gibt die Hoffnung nicht auf. Es sei sein Hobby zu hoffen, hat er einmal gesagt. "Wer erzählt, der hofft“, erklärt er. "Trotz aller Rückschläge wird meine Hoffnung nicht sterben. Die historische Erfahrung gibt mir Anlass zu dieser Hoffnung, denn kein Despot konnte auf ewig herrschen.“
Er wünscht sich eine Gesellschaft, in der alle Menschen unabhängig von ihrem Glauben, ihrer Ethnie oder ihrem Geschlecht gleichgestellt leben können. Er träumt von einer "Gesellschaft, die wachsam gegen Unrecht bleibt, die ihre Umwelt respektvoll als wichtigen Teil ihres Lebens, ihres Körpers und ihrer Seele und nicht als etwas seelenloses Fremdes behandelt.“ Einer Gesellschaft, in der alle Menschen geduldig und friedlich miteinander umgehen.
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