Der unvoreingenommene Blick
Stefan Weidner gehört zu den intelligentesten Kommentatoren, wenn es um die Befindlichkeiten der islamischen Welt geht. Dieses Buch ist eine Sammlung seiner Essays, Reportagen, Analysen und Rezensionen aus den Jahren 1999 bis 2011, aufgeteilt in fünf thematische Kapitel. Weidner sieht den Arabischen Frühling, in dessen Folge bislang vier autokratische Herrscher abdanken mussten, vertrieben oder getötet wurden, als eine Zäsur im Verhältnis zwischen dem Westen und der islamischen Welt.
Die Zeit des Imperialismus und post-kolonialer Regime, die sich mit Hilfe des Westens an der Macht hielten, sei nun endgültig vorbei, schreibt er. Nun sei es geboten, die "Versehrungen" auf beiden Seiten aufzuarbeiten, die in Gestalt eines permanenten gegenseitigen Misstrauens daherkämen: Der Westen misstraut der islamischen Welt insbesondere seit dem 11. September 2001, weil er Muslime für grundsätzlich gewaltbereit und demokratieunfähig hält, die islamische Welt misstraut dem Westen, weil Muslime glauben, dass die USA und auch die Europäer in ihrer Weltregion hinter den Kulissen die Strippen ziehen und Verschwörungen aushecken.
Differenzierte Sicht
Der Arabische Frühling, so Weidner, biete endlich die Möglichkeit, dieses Misstrauen zu überwinden. Dazu gehöre es, das Unwissen und die Ignoranz auf beiden Seiten zu überwinden. Das vorliegende Buch will einen Beitrag dazu leisten.
Um es vorweg zu nehmen: Der Versuch ist gelungen. Obwohl die Texte unabhängig voneinander über den genannten Zeitraum hinweg entstanden sind, ergänzen sie sich im Großen und Ganzen thematisch und erlauben dem Leser differenzierte Einblicke in das Wesen der islamischen Welt und wie wir sie von Deutschland aus betrachten.
Das Buch ist gekennzeichnet von zwei zentralen Themen, die Weidner über die Jahre beschäftigt haben. Zum einen der Versuch, unser von Klischees und Vereinfachungen bestimmtes Islambild gerade zu rücken, indem er Phänomene wie die Scharia aus einer Perspektive betrachtet, wie sie nicht unbedingt üblich ist.
Zum anderen treibt ihn die Frage um, inwiefern Islamkritik, die es bereits vor dem 11. September 2001 gab, seitdem aber enorm zugenommen hat, berechtigt und notwendig ist oder nur dazu führt, die Muslime weiter in die Ecke zu treiben und sie dazu bringt, ihre eigene Religion rückhaltlos zu verteidigen. Dem Thema Islamkritik ist denn auch ein eigenes Kapitel gewidmet.
Hardware- oder Software-Islam?
Zunächst geht es Weidner aber um eine "Lagebestimmung", wie das erste Kapitel umschrieben wird. Im Zentrum steht ein Text über die Frage, ob der Islam als "Hardware" oder als "Software" zu betrachten sei. Hardware ist starr und unabänderlich, man kann sie kaum verändern. Software hingegen ist flexibel, man kann in sie eingreifen und sie den Bedürfnissen anpassen.
Im Westen hält sich hartnäckig die Sicht, der Islam entspreche der Hardware, er sei autoritär und demokratiefeindlich und sei nicht mit unserem westlichen, von Pluralismus gekennzeichneten Staatswesen vereinbar.
Manche, wie der verstorbene Politologe Samuel Huntington, gehen einen Schritt weiter: Er charakterisierte den Islam, unabhängig von Zeit und Ort, als grundsätzlich kriegerische Religion, die nicht in Frieden mit anderen Gläubigen zusammenleben könne. Deswegen werde die Zukunft dort, wo der Islam auf andere Religionen treffe, von einem "Kampf der Kulturen" geprägt sein.
Weidner hält diese Sichtweise für unhistorisch: Jede Religion verändere sich im Laufe der Zeit, auch der Islam sei in seinen 1.400 Jahren Geschichte nicht einheitlich geblieben. Passen also Islam und moderne Demokratie zusammen? "Weder ist 'der Islam' gänzlich mit der modernen Demokratie vereinbar, noch schließt er eine gewisse Kompatibilität aus", schreibt Weidner dazu.
Anpassung an die muslimische Lebenspraxis
Auch das Christentum in seiner Urform sei mit der modernen Demokratie nicht vereinbar gewesen, aber eine radikale Reformation, die viel Blut gekostet habe, habe das geändert. Das sei im Islam auch möglich. Abgesehen davon: Nicht Ideen machten die Menschen zu Demokraten, sondern Tatsachen: "Wenn es sich in einer Demokratie angenehmer lebt, wird spätestens die dritte Generation diese Demokratie lebenspraktisch mit ihrem Muslim-Sein vereinbaren."
Die Angst des Westens vor der Scharia sei nur bedingt unbegründet, so Weidner. Denn für Muslime bedeute Scharia in erster Linie Gerechtigkeit und nicht das Abhacken von Händen. In einem gerechten System, auch und gerade in einem demokratischen, bestehe also nicht die Notwendigkeit, die archaischen Momente der Scharia umzusetzen.
Diejenigen, die den Islam als "Software" betrachten, sehen das ähnlich. Sie halten den Islam für flexibel und nicht in Stein gemeißelt, der Vorwurf, der Islam sei grundsätzlich gewalttätig mithin obsolet. Wenn auch deutlich wird, dass Weidner mit dieser Sichtweise sympathisiert, so sieht er auch Probleme.
Denn die Vertreter des "Software-Islams" neigen zur Apologetik, sie verteidigen den Islam gegen jegliche Kritik – selbst dann, wenn sie geboten erscheint. Weidner selbst scheut sich nicht, problematische Aspekte der islamischen Tradition anzusprechen.
So verweist er an einer Stelle auf die Hadith-Sammlung von al-Nawawi aus dem 13. Jahrhundert, die sich in der islamischen Welt noch heute großer Beliebtheit erfreut. In einem Hadith wird das Töten eines Muslims verboten, es sei denn bei verheirateten Ehebrechern, bei Mördern und bei Apostaten.
Zeitgemäße Lesarten religiöser Texte
Womit wir bei den problematischen Aspekten der Scharia wären. Im 13. Jahrhundert mögen diese Strafen normal gewesen sein – auch in einem europäischen Kontext –, aus heutiger Sicht aber sind sie barbarisch.
Da diese Anweisungen aber laut Tradition direkt aus dem Munde des Propheten stammen, scheuen sich auch moderne Rechtsgelehrte, sie zu entkräften – zumal sie in dem Fall von islamischen Fundamentalisten leicht als Abtrünnige diffamiert werden können. Eine historisch-kritische Auseinandersetzung mit den religiösen Texten sei aber notwendig, wenn die notwendige Modernisierung des Islams gelingen soll, so Weidner.
Der Autor spricht sich also nicht grundsätzlich gegen Islamkritik aus, allerdings wirft er den selbsternannten Islamkritikern, die sich in Deutschland vor allen Dingen seit dem 11. September 2001 rapide vermehrt haben, vor, sie würden das Kind mit dem Bade ausschütten.
So sprächen sie – ähnlich wie die Vertreter des "Hardware-Islams" – den Muslimen jede Möglichkeit ab, ihre Religion zu modernisieren. Der Islam sei statisch und nicht reformierbar und mithin demokratiefeindlich, so die Islamkritiker. Für das Zusammenleben in Europa hat eine derartige Sichtweise ernsthafte Konsequenzen. Denn letztlich besagt sie, dass sich Muslime hierzulande nur integrieren können, wenn sie ihren Glauben aufgeben.
Trotz der verhärteten Fronten ist Weidner optimistisch. Der Arabische Frühling habe gezeigt, dass auch gläubige Muslime für vermeintlich westliche Werte wie Demokratie und Meinungsfreiheit auf die Straße gehen können. Der Weg zu einer wirklichen Demokratisierung des Nahen Ostens mag steinig sein, aber der Westen tue gut daran, die Muslime darin zu unterstützen – ansonsten drohe sich die Entfremdung zwischen westlicher und islamischer Welt weiter zu vertiefen.
Albrecht Metzger
© Qantara.de 2012
Stefan Weidner: Aufbruch in die Vernunft. Islamdebatten und islamische Welt zwischen 9/11 und den arabischen Revolutionen, J.H.W. Dietz, Bonn 2011.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de