Annäherungen an die Wirklichkeit
Es gibt viele Arten, die Wirklichkeit zu erfahren, sie zu deuten und sich einen Reim auf sie zu machen. Anders sieht es aus, wenn es darum geht, bestimmte Versionen der Wirklichkeit auszusprechen und öffentlich zu machen. Dann verengt sich der Spielraum des Möglichen. Denn nicht alle Versionen haben Chancen, gehört zu werden, jedenfalls dann nicht, wenn sie in einem politischen Umfeld entstehen, dass nicht allen Deutungen gleichermaßen gewogen ist. Läuft es schlecht, hat nur eine einzige Lesart Chancen, gehört zu werden.
"Wenn man in einer Diktatur aufwächst, ist man von der Wirklichkeit abgeschnitten. Die Realität wird zum Eigentum des Staates." So umreißt der ägyptische Filmemacher Yousry Nasrallah, 1952 geboren, seine Erfahrungen mit den politischen Regimen seines Landes. Diese traten unter verschiedenen Vorzeichen an, aber im Umgang mit den Bürgern unterschieden sie sich nicht.
Der Bürger als Untertan
Nassers Traum eines arabischen Wegs zum Sozialismus; die neoliberalen Rezepte Anwar al-Sadats und Husni Mubaraks; Mursis kurzer Traum vom frommen und nun auch immer mehr Abdelfattah al-Sisis Programm des geordneten Staats: in einem waren sich alle ideologischen Konzepte einig: der Bürger ist in erster Linie Untertan. Politisch sollte er Enthaltsamkeit üben, vor allem, wenn er die Dinge anders sieht als das jeweilige Regime es tut.
Sicher: Die Vorherrschaft eines Weltbilds beruht auf der Fähigkeit des Staates, dieses mit aller Kraft durchzusetzen. Aber ist Repression die einzige Voraussetzung kultureller Verarmung? Nein, meint Nasrallah und verweist auf den Hang nicht nur des arabischen Publikums, sich die Welt nach eigenem Gutdünken zurechtzubiegen. Aufgefallen sei ihm das bei den Arbeiten zu seinem Film "Bab al-Shams", einem fünfstündigen Epos über das Schicksal der Palästinenser, gedreht auf Grundlage des gleichnamigen Romans von Elias Khoury.
Warum, fragt Nasrallah, erinnerten sich die Araber, wenn sie an die Massaker des Libanonkriegs dächten, vor allem an das in den Palästinenserlagern in Sabra und Schatila? Weil es so einfach sei, die Schuld den Palästinensern und Christen zu geben und die von Arabern – den Syrern, der Amal-Bewegung, den Widerstandsgruppen - begangenen Massaker zu verdrängen. Eben darum drehen sich seine Filme, nämlich "um die politische Bewegung der 1970er Jahre, warum und wie sie versagte, wie unsere Ideen mit der Realität kollidierten, wie wir die Realität ausgeklammert haben", erklärt Nasrallah.
Wenn nicht die Realitäten, so doch zumindest die Sichtweisen auf sie zu beeinflussen, das ist das wohl zentrale Anliegen der Künstler, Autoren, Regisseure, Tänzer, die der Band "Zeitgenössische Künstler - Arabische Welt" vorstellt. Knapp 25 Künstler stellt der Band vor, geographisch reicht die Spannweite von Tunesien bis nach Saudi Arabien. Alle setzen sie sich mit der politischen Situation in ihren jeweiligen Ländern auseinander. Und das heißt vor allem: Schritt zu halten mit dem Tempo der Ereignisse.
Schnelllebigkeit der Umbrüche
Über Jahrzehnte staute sich an, was 2011 zum Ausbruch und den Umwälzungen führte. Die Frage ist nur: wohin führten die Umstürze? Die heroischen, im Nachhinein aber auch allzu hoffnungsfroh gefeierten Umbrüche sind ins Stocken geraten. Darum leiden auch die damals entstandenen Werke unter einer enormen Halbwertzeit. Sein Stück "Look at the street", ein Stück über die ägyptische Revolution, berichtet der syrische Dramatiker Mohammad al-Atar, habe er ein Jahr nach der Uraufführung in Deutschland präsentieren wollen. "Es kam uns so vor, als sei der Text vor einem Jahrzehnt geschrieben worden und nicht vor einem Jahr!" Inzwischen wirke der Text wie ein historisches Dokument.
Für die künstlerische Auseinandersetzung mit den Umbrüchen kann das nur eines heißen: auf Distanz gehen, sich nicht verlieren in den aufbrausenden Momenten einer rasenden Gegenwart. Es braucht eine künstlerische Sprache, die ihre Eigenständigkeit bewahrt, nicht ihrerseits zum Spielball der Zeiten wird. Mehr als auf Bilder, erklärt der libanesische Regisseur Rabih Mroué, kommt es vielleicht auf deren Hintergrund an, auf das, was sie nicht zeigen. "Welche Dinge sehen wir, und welche Dinge können wir nicht sehen?" Hat man, wenn man die – auch politische – Wirklichkeit beobachtet, tatsächlich das Ganze im Auge? Oder nur einen Teil, den man für das Ganze hält? Indem Mroué mit den Mechanismen verzerrter Wahrnehmungen spielt, wirft er eine beunruhigende Frage auf: Sehen wir die Wirklichkeit? Oder glauben wir nur, sie zu sehen?
Im Sog des Politischen
Yousry Nasrallah verweist in diesem Zusammenhang auf die Kamelreiter, die in den aufgepeitschten Revolutionswochen den ägyptischen Demonstranten entgegenstürmten. Sie wurden zu einer Ikone der zu allem entschlossenen Staatsmacht – obwohl bis heute nicht klar ist, von wem die Reiter ihren Auftrag erhielten.
Auf die konkreten politischen Fragen, zeigt dieser lesenswerte, informative Band, kann die Kultur keine Antworten geben. Stattdessen regt sie dazu an, auf Distanz zu gehen, sich von der Gegenwart und denen, die sie gestalten, nicht vereinnahmen zu lassen. "Ich hatte nie das Gefühl, irgendwo dazuzugehören", erklärt Ibrahim El-Batout und geht diesem Gefühl in seinen Filmen nach.
Und so lassen sich sämtliche Positionen, die der Band umreißt, als Varianten des Liberalismus verstehen: als Weigerung, sich dem Druck der öffentlichen Meinung zu beugen, sei es jener, die der Staat seinen Bürgern verordnet, sei es jener, die sich die Bürger selbst auf die Fahnen geschrieben haben – nicht zuletzt unter religiösen Vorzeichen.
"Ich suche die Besonderheiten oder Charakteristika meiner Person nicht in meinen Wurzeln oder Ursprüngen", umreißt Rabih Mroué sein Menschenbild. "Ich glaube nicht an Anfänge." So wunderbar das ist, so schwer lässt es sich umsetzen. In Ost und West hat Freiheit die gleiche große Schwäche: Man muss sie aushalten und gestalten können.
Die Weigerung, sich Weltanschauungen mit Haut und Haar zu verschreiben, für Ideologien nicht bis zum Äußersten zu gehen: vor diese Herausforderung stehen, wie in allen Revolutionen, derzeit vor allem die Bürger der arabischen Umbruchsländer. Wie Künstler und Intellektuelle sich ihr stellen, zeigt dieser kluge, informative Band auf eindrückliche Weise.
Kersten Knipp
© Qantara.de 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
"Zeitgenössische Künstler – Arabische Welt", von Johannes Ebert, Günther Hasenkamp, Johannes Odenthal, Sarah Rifky und Stefan Winkler (Hg. im Auftrag des Goethe-Instituts und der Akademie der Künste), Reihe POSITIONEN im Steidl-Verlag 2014, 304 Seiten