Räume der Verständigung mit dem Anderen
Nicht erst seit dem Arabischen Frühling üben die Landschaften Marokkos auf europäische Filmemacher einen besonderen Reiz aus. Insofern durfte man gespannt sein, wie Caroline Link, spätestens seit ihrem Oscar-prämierten Film "Nirgendwo in Afrika" mit dem afrikanischen Kontinent bestens vertraut, in ihrem jüngsten Werk, von dem lange bekannt war, dass es in Marokko spielen sollte, mit dieser Thematik umgehen würde.
In "Exit Marrakech" schickt Caroline Link einen erfolgreichen deutschen Theaterregisseur mit Gotthold Ephraim Lessings Bühnenklassiker "Emilia Galotti" auf Tournee durch Marokko. Gespielt wird in exquisiten Theatern und vor ausgewähltem Publikum.
Wenngleich dies auch nur der Hintergrund ist für die im Zentrum stehende Beziehungsgeschichte zwischen Heinrich, dem Theatermann, und Ben, dessen 17-jährigem Sohn, der als Scheidungskind bei seiner Mutter und im Internat aufgewachsen ist und nunmehr die Sommerferien mit seinem Vater in Marokko verbringen soll, so ist diese literarische Anspielung doch klug gewählt: Lessings Stück ist eines der bedeutendsten Werke der europäischen Aufklärung; es thematisiert auf eindringlichste Weise die Werte bürgerlicher Autonomie, aber auch die Gefahren eines in blinder Selbstherrlichkeit absolut gesetzten Tugendrigorismus.
Kulturaustausch als Einbahnstraße
Nur einmal leuchtet Lessings Werk selbst kurz auf, nämlich in der Darbietung der Schlussszene, in der der bürgerliche Vater seine Tochter ersticht, damit deren Tugend erhalten bleibe. "Und jetzt musst du die Marokkaner mit dieser Klassiker-Scheiße belästigen", sagt Ben, der gerade in die Stadt gekommen ist, am Flughafen von einer Limousine, aber nicht vom Vater abgeholt wurde und nun allein den Weg zum Theater gefunden hat, um noch den letzten Rest der Aufführung mitzubekommen.
Was der junge Ben, bemerkenswert subtil und differenziert gespielt von Samuel Schneider, hier formuliert, bringt in jugendlicher Unbefangenheit das fundamentale Dilemma zum Ausdruck, das die Theatertournee seines Vaters kennzeichnet: Hier fungiert Kulturaustausch ausschließlich als Einbahnstraße.
Von daher wundert es nicht, dass Heinrich (in seiner charakterlichen Tristesse souverän dargeboten von Ulrich Tukur), wenn der höfliche Applaus im Theater verklungen ist, kaum die Kultur und die Menschen Marokkos kennen lernen will, sondern lieber am Pool seines Luxushotels liegt und sich mit amerikanischer Reiseliteratur die Zeit vertreibt. Dem jugendlichen Ben hingegen eignet jene Offenheit, jene Neugierde auf das Andere, die offenbar auch Caroline Link antreibt.
So macht sich Ben schließlich auf eigene Faust auf den Weg durch die Stadt, begegnet Kindern in den Souks, zwei marokkanischen Männern, die er schon zur After-Hour der Aufführung getroffen hatte, und schließlich Karima (großartig: Hafsia Herzi), die offenbar als Gelegenheitsprostituierte arbeitet und ihn in einem düsteren Nachtclub anspricht.
Öffnung gegenüber dem Anderen
Dass Ben ihr Geld gibt, um sie wenigstens an diesem Abend von der Prostitution auszulösen, ohne selbst mit ihr schlafen zu wollen, sie nach Hause begleitet und am nächsten Tag erneut aufsucht, um sie schließlich auf die Fahrt in das abgelegene Dorf zu begleiten, mag seiner jugendlichen Unbedarftheit zuzuschreiben sein.
Doch zugleich markieren diese Handlungen eine Öffnung gegenüber dem ganz Anderen, die Ben in einen deutlichen Kontrast zu der Lethargie seines in Marrakesch ahnungslos zurückgelassenen Vaters setzt.
Dass diese beiden, nachdem der Vater den Aufenthaltsort des Jungen hat ausmachen können, sich schließlich – während eines Road-Trips durch die marokkanische Landschaft – wenigstens einander annähern können, ist einerseits der Unbefangenheit des Sohnes, andererseits in mindestens gleichem Maße der Kultur marokkanischer Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft zu verdanken.
Überhaut das Marokkanische: Das vielleicht Bemerkenswerteste an diesem ausgesprochen gelungenen Film ist, auf welche Weise Caroline Link marokkanische Kultur und Lebenswelt in Szene setzt. Der Blick dieser Regisseurin ist in erstaunlicher, für den deutschen Film geradezu außergewöhnlicher Weise von Respekt, Offenheit und Wertschätzung für das Andere der maghrebinischen Kultur geprägt.
Soziale Vielfalt und kultureller Reichtum Marokkos
Aus dieser Grundhaltung entfalten sich die Bilder dieses Films in äußerster Präzision und Intensität. Caroline Link beweist in "Exit Marrakech" ein sensibles Gespür für die landschaftliche Schönheit, die soziale Vielfalt und den kulturellen Reichtum der marokkanischen Welt, aber auch für deren gesellschaftliche Widersprüche.
Dabei – und das könnte die größte Leistung dieses Films sein – vergisst das Kameraauge nie, dass es einen europäischen Blick, den Blick eines Gastes einnimmt. Der Film will sich öffnen, will verstehen, will sich annähern, keinesfalls jedoch Lösungen aufdrängen für jene Phänomene, die nur aus dem Innern der Gesellschaft selbst bewältigt werden können.
Vor diesem Hintergrund widmet die Regisseurin nicht nur ihren Protagonisten, sondern auch allen Nebenfiguren eine große Aufmerksamkeit, die in vielen Szenen des Films tief berührt. Manchmal werden sie nur momenthaft in Szene gesetzt, etwa der hungernde Bettler, der verzweifelt an die Scheibe eines Restaurants klopft, der junge Dichter, der einen schwulen Liebesroman geschrieben hat, der im Patriarchalischen gefangene Vater Karimas, deren jüngere Schwester in ihrer Angst vor dem Fremden.
Der Ruf des Muezzins als Metapher der Bedrohung
Mit behutsamen, fein gesetzten Bildern entsteht das kaleidoskopartige Bild einer Gesellschaft, die von großen ökonomischen und weltanschaulichen Unterschieden geprägt ist – und die unzweifelhaft im Aufbruch begriffen ist. In einem Aufbruch freilich, der die kulturelle Identität nicht vom Tisch wischt.
Viele westliche Filme nutzen den Ruf des Muezzins als Metapher der Bedrohung. Ganz anders Caroline Link. In einer der insgesamt fünf Filmszenen etwa, in welchen der Gottesruf (direkt oder indirekt) erklingt, übersetzt ein Wüsten-Guide die Worte für Ben ins Englische, während sie dem Zuschauer in Untertiteln auf Deutsch dargeboten werden: religiöse Identität in einer Welt der Globalisierung.
Derweil Heinrich und Ben sich am Ende finden, bleibt die Geschichte von Karima, die von ihrem Vater aufgrund des Besuches des Fremden zeitweise des Hauses verwiesen wird, zum Schluss offen. Eine Lösung steht der Regisseurin nicht zu.
Kritisieren wird das aber nur der, der in selbstherrlichem Tugendrigorismus verhaftet ist, also die richtigen Lösungen für den jeweils Anderen parat zu haben glaubt. Zu welchen Mitteln solcher Tugendrigorismus imstande ist, wissen wir dank Lessing zur Genüge. Caroline Links großer Film öffnet Räume der Verständigung mit dem Anderen. Mehr ist von Kunst nicht zu erwarten.
Christoph Leisten
© Qantara.de 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Christoph Leisten publizierte u.a. den Prosaband "Marrakesch, Djemaa el Fna" (Rimbaud Verlag), der auch ins Arabische übersetzt wurde. Im Frühjahr 2014 erscheint sein Buch "Argana. Notizen aus Marokko".