Ein Wandel, an den wir glauben können
Ein bedeutsames Jahr neigt sich dem Ende zu, und das sowohl für unsere Region als auch auf globaler Ebene. An vielen Orten war von einem "Erwachen" die Rede, das den strategischen, sozialen und politischen Kontext der Region, die ich "West-Asien/Nordafrika" nennen möchte (und normalerweise als "Naher Osten und Nordafrika" bezeichnet), grundlegend verändert hat.
Auf globaler Ebene brachten schwere Belastungen der Weltwirtschaft – die sich nicht nur auf die westlichen Staaten beschränkten – eine hyper-globalisierte Welt zum Vorschein, in der Chancen, Gleichheit, Gerechtigkeit und soziale Mobilität in unzumutbarer Weise eingeschränkt sind.
Die Defizite in staatlichen Haushalten schufen und verstärkten ein Vertrauensdefizit, wie auch ein Defizit an Menschenwürde, und das sowohl im Westen wie in West-Asien/Nordafrika. Diese Entwicklungen trugen zur "Occupy"-Bewegung in London und den USA ebenso bei wie zu ähnlichen Bewegungen in Europa, die vom Arabischen Frühling nicht nur beeinflusst wurden, sondern auch durch gemeinsame Anliegen mit diesem verbunden waren.
Die Geburt einer neuen globalen Rhetorik
Möglicherweise sehen wir hier die Geburt einer neuen globalen Rhetorik, entstanden in der Region West-Asien/Nordafrika. Im Kern dieser Rhetorik steht die Behauptung, dass es die Menschen sind, die als "systemrelevant" zu gelten haben. Im Jahr 2012 aber werden diese Bewegungen argumentativ noch besser unterfüttert werden müssen: Weder die Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz in Kairo noch diejenigen in der New Yorker Wall Street oder anderswo waren intellektuell oder politisch ausreichend kodifiziert.
Das Konzept der menschlichen Sicherheit wurde stattdessen durch die Ereignisse auf den Straßen gerechtfertigt: eine kritische Masse, gebildet von einer einst schweigenden Mehrheit, ist zum Vorschein gekommen.
Doch das Twittern, das so eng verbunden scheint mit den jüngsten Protesten, ist kein Ersatz für das Nachdenken, so wie die Leidenschaft kein Ersatz für die Disziplin ist. Wir sind zu einer Region mit Millionen von Dialekten geworden; Jahrzehnte einer Politik des "Teile und herrsche" haben uns unfähig gemacht, mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen. Aus diesem Grund waren es zu häufig andere, außerhalb unserer Region, die das Sprechen für uns übernommen haben.
Es ist an der Zeit, dass wir ein neues Narrativ entwickeln – und ein stärkeres Gefühl für unsere Gemeinsamkeiten. Vor einem Jahr, am 1. Januar 2011, wurden bei einem Angriff auf eine koptische Kirche in Alexandria 21 Menschen getötet; 25 Tage später beteten Muslime und Christen gemeinsam auf dem Tahrir-Platz.
Auch das hielt nicht lang – religiöse Spannungen flackerten nicht nur in Ägypten und Bahrain wieder auf, sondern in der ganzen Region. Und dennoch ist davon auszugehen, dass diese Reibungen, die die Region so oft zu zerreißen drohen, letztendlich viel weniger dramatisch sind als sie erscheinen.
Kampf für universelle Grundrechte
Die arabische Welt wird oft als ein Ort gezeichnet, an dem gegen alles gekämpft wird, insbesondere gegen den Fortschritt. Doch in den letzten Monaten waren es die Männer und Frauen in dieser Region, die an der Spitze eines Kampfes um etwas gestanden haben, das man als universelle Rechte umschreiben kann: Gerechtigkeit, Transparenz und Verantwortlichkeit, das Recht auf Vereinbarkeit von Beruf und Familie, und auch für das Recht der Palästinenser, Bürger ihres eigenen souveränen Staates zu werden.
Über die Zukunft der Region West-Asien/Nordafrika wird neu verhandelt, sie wird auf den Prüfstein gestellt und es wird um sie gestritten; wie genau diese Zukunft aussehen wird, ist noch ungewiss – doch die Asche, aus der sie erwachsen wird, glüht noch.
Unsere Region braucht eine Grundrechte-Charta, die alle Formen von Diskriminierung ächtet, und doch Verantwortlichkeiten benennt. Wir müssen die Gemeinschaften der "Dritten Sphäre" mit einbinden – gebildet von Organisationen der Zivilgesellschaft, der Regierung und dem privaten Sektor – um tragfähige Modelle sozialen Zusammenhalts und der Inklusion zu schaffen. Wir müssen in Forschung und Entwicklung investieren – und nicht nur geschäftliche Unternehmungen, sondern die Ausbildung der Menschen fördern.
1987 war ich Mitglied einer Kommission, die der UN-Vollversammlung einen Bericht vorlegte, in dem eine neue "internationale humanitäre Ordnung" gefordert wurde. In dem Bericht mit dem Titel "Winning the Human Race" kommt man zu der Auffassung, dass wirtschaftliches Wachstum und nationale Sicherheit in höchstem Maße vom Wohl einzelner Menschen und ihrer Gemeinschaften abhingen.
Die Schlussfolgerungen aus dem, was wir in den letzten 12 Monaten beobachten konnten, scheinen mit denen aus dem 24 Jahre alten Report übereinzustimmen. In gewissem Sinn weisen auch sie darauf hin, dass der "Wandel, an den wir glauben können" nicht von den Regierungen zu erwarten ist, nicht von Armeen oder Institutionen – sondern von einzelnen Menschen.
Prinz Hassan bin Talal
© Common Ground News Service 2011
* Prinz Hassan bin Talal ist Gründer und Vorsitzender des "Arab Thought Forum" (ATF) und des "West-Asia North-Africa Forum".
Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de