Virtueller Spiegel der türkischen Geschichte
Gibt man die URL des "Museums für Gedankenverbrechen?!" ein, öffnet sich eine Seite, die an ein Comic oder einen Zeichentrickfilm erinnert: Kleine bunte Männchen, die "Der Taksim-Platz gehört uns, Istanbul gehört uns!" rufen, werden von Polizisten mit Wasserwerfen gejagt, dazu ertönt eine einladende Musik. Im Hintergrund steht ein Gebäude aus rosa Backstein mit zwei Schaufenstern in denen Fotos in einem Karussell durchlaufen.
Es ist das "Museum für Gedankenverbrechen?!", das erste virtuelle Museum dieser Art in der Türkei. Hier finden sich Informationen zu Schriftstellern, Künstlern, Journalisten und Schauspielern, die sogenannte Gedankenverbrechen begangen haben und aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit zu Haftstrafen verurteilt oder gefoltert wurden und teilweise ins Exil geflohen sind. Per Mausklick kann das Museum auf Türkisch oder Englisch besucht werden.
Die Idee zu diesem Projekt ist recht alt, wie der Komponist und Menschenrechtsaktivist Şanar Yurdatapan, einer der Initiatoren des Projekts, erklärt. Sie geht zurück auf das Jahr 1995, als der Schriftsteller Yaşar Kemal einen Artikel im Spiegel veröffentlichte, in dem er die Gräueltaten des türkischen Militärs gegen die Kurden beschrieb. "Aus Solidarität veröffentlichten über 1.000 Intellektuelle ein Buch mit ihren damals verbotenen Schriften und denunzierten sich damit selbst", berichtet Yurdatapan. "Da entstand, besonders durch die Initiative Ali Nesins, dem Sohn des Schriftstellers Aziz Nesin, die Idee, verbotene Werke in einem Teil des Pressemuseums der Journalistengesellschaft im Istanbuler Stadtteil Cağaloğlu auszustellen."
Doch zu der Umsetzung der Idee kam es letztlich nicht. Und auch die 1997 von Anwälten organisierte Ausstellung scheiterte aus finanziellen Gründen nach nur kurzer Zeit.
Durch das Labyrinth aus Gefängnis, Exil, Friedhof und Gericht
Knapp zehn Jahre später können sich Besucher nun in den virtuellen Räumen des weltweiten Netzes per Mausklick von den Schildern im Eingangsbereich des Museums zu den verschiedenen Sektionen führen lassen: Gefängnis, Exil und Friedhof auf der rechten Seite, Staatsanwaltschaft und Gericht auf der linken. Geradeaus gelangt man zu den Räumen Literatur, Presse und Publikationen, bildende und darstellende Kunst, Glauben und Diskriminierung, Natur- und Geisteswissenschaften, Bibliothek und Privatraum. Bei Bedarf kann man sich von einem Guide durch die Räume führen lassen. Außerdem finden sich neben dem virtuellen Fahrstuhl Informationen zur Verfassung und zum türkischen Rechtssystem.
Noch steckt das Projekt in den Anfangsschuhen. "Das Museum ist noch längst nicht fertig", erklärt Yurdatapan. "So etwas würde über 50 Jahre dauern." Wachsen soll es durch die Beteiligung der Zivilbevölkerung, die aufgerufen ist, Dokumente einzureichen, die im virtuellen Museum archiviert und öffentlich zugänglich gemacht werden sollen.
"Wir haben die Stockwerke und Gänge vorbereitet und in jedem Stockwerk symbolisch ein paar Räume eröffnet", so Yurdatapan. "Wir laden alle ein, ausstellungswürdige Dokumente einzureichen, um das Museum gemeinsam zu füllen." Ziel der Macher ist es, durch ein Gemeinschaftsprojekt ein kollektives Gedächtnis zu schaffen.
Das Internet, so Yurdatapan, bietet eine gute Plattform für das Projekt. Es habe den Vorteil, dass es hier vor Randalierern geschützt sei. Vor einer Sperrung des Portals von Seiten des Staates fürchtet er sich nicht, die könne erfahrungsgemäß umgangen werden. Auch glaubt er nicht an juristische Konsequenzen. "Solche Verfahren sind wir ohnehin mittlerweile gewohnt. Bei einer eventuellen Geldstrafe bekämen wir das Geld doppelt und dreifach durch den Europäischen Gerichtshof zurück. Da vertrauen wir ganz auf unsere Rechte", so Yurdatapan.
Humor als Waffe gegen Unterdrückung
Er ist davon überzeugt, dass das Museum nicht nur wichtige Informationen zur Verfügung stellt, sondern seine Besucher auch emotional anspricht. Die Gestaltung der Räume und die Darstellung der Personen, etwa denen in den Gefängniszellen, sind in der Tradition der türkischen Comics und Graphic Novels gehalten. Das ist Absicht.
"Die Missstände, die das Museum thematisiert, wiegen schwer genug", sagt Yurdatapan, "da sollte zumindest die äußere, optische Aufmachung fröhlich gestaltet sein." Zudem habe die Vergangenheit gezeigt, dass Humor die beste Waffe gegen Unterdrückung sei. So habe die Figur Nasrettin Hoca Hunderte von Jahren überlebt, weil er den Humor einst gegen den Herrscher Timur eingesetzt hat. Ebenso sei Aziz Nesin durch seine humorvollen Erzählungen unsterblich geworden. Und auch bei den Gezi-Protesten vom Sommer 2013 war Humor eine überzeugende Waffe gegen Polizeigewalt.
Eine bestimmte Zielgruppe spreche das Projekt nicht an, erklärt Yurdatapan. Der Grund: "Sogenannte Gedankenverbrechen beschränken sich nicht auf ein bestimmtes Alter, Geschlecht, eine Nation, Religion oder Sprache." Jeder werde ein sogenanntes Verbrechen entdecken können, das ihn besonders berühre, glaubt der Projektinitiator.
So findet sich etwa im "absurden Raum" gleich neben dem Fahrstuhl die Geschichte von einer Kuh namens Gülsüm. In einem Dorf in der Provinz Malatya hatte sie auf einem Schulhof eine Büste des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk zerstört. Das Bildungsministerium führte daraufhin eine Befragung durch. Aus Angst vor einer Bestrafung durch die Staatsanwaltschaft schickte der Besitzer der Kuh sein Tier "ins Exil" zu Bekannten im Nachbardorf. Diese wahre Geschichte wurde später auch verfilmt und kann im Museum nachgelesen werden.
Fenster zu gleichartigen Projekten
Langfristiges Ziel des Projekts ist es, das Museum mit anderen internationalen Museen dieser Art zu verlinken, um beispielsweise von dem Zimmer des Dichters Nazım Hikmet zu ähnlichen Museen in Griechenland, Chile oder Frankreich zu gelangen.
Für den kundigen Besucher bleiben die Informationen bislang etwas spärlich, geben jedoch nichtsdestotrotz einen guten Überblick über das Leben und Schaffen der verfolgten Personen. Es bleibt zu hoffen, dass die Macher von den Möglichkeiten des Internets profitieren, um den Interessierten weiteres, bislang ungesichtetes Video- und Audiomaterial zugänglich zu machen.
Auch wenn sich über die Gestaltung der Seite gewiss streiten lässt, ist das virtuelle "Museum für Gedankenverbrechen?!" – auch angesichts der Diskussionen in der Türkei über die Musealsierung von Gefängnissen und das Madımak-Hotels in Sivas, in dem 1993 bei einem Brandanschlag 37 zumeist alevitische Intellektuelle ums Leben kamen – ein längst überfälliges Projekt, das einen wichtigen Schritt für die Aufarbeitung der jüngeren türkischen Geschichte darstellt.
Ceyda Nurtsch
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