Radikal? Wir doch nicht!
Dass angesichts der turbulenten Geschichte des Nahostkonflikts manches schnell in Vergessenheit gerät, verwundert nicht weiter. Für die immer wieder zu beobachtende Wandelbarkeit der Begriffe, mit denen die Konfliktparteien und auch Beobachter operieren, liefert der Fall der palästinensischen Islamisten-Organisation Hamas ein besonders anschauliches Beispiel.
So ist an der in der hiesigen Berichterstattung wie auch im deutschen Regierungsdiskurs geläufigen Bezeichnung der Hamas als „radikal-islamisch“ jüngst Kritik ausgerechnet von einem ehemaligen deutschen Nahost-Korrespondenten geäußert worden, der die Islamisten-Organisation einst selbst mit ebendiesen Worten beschrieben hatte.
Seine Forderung, Israels Militär und gar Ministerpräsident Netanjahu als „radikal-zionistisch“ zu bezeichnen, ist mehr als bedenklich. Denn darin ist die Absicht zu erkennen, eine Analogie zwischen der auch in der Europäischen Union als Terrororganisation eingestuften Hamas und einem Staat zu ziehen, der trotz seines kontinuierlichen Rechtsrucks nach wie vor demokratisch ist und zu Deutschland und Europa enge Beziehungen unterhält.
Eine solche Analogie käme auch schlicht einer Übernahme der Rhetorik der Hamas gleich. Und sie ist genauso abwegig wie die Behauptung, dass Israel die „Gründung der Hamas zunächst sogar zupass“ gekommen sei. Historisch richtig ist vielmehr, dass in den siebziger Jahren die israelischen Besatzer die palästinensischen Muslimbrüder im Gazastreifen anfangs zwar weitgehend gewähren ließen, um deren Konkurrenten von der Fatah – damals der gefährlichste Gegner Israels bei den Palästinensern – zu schwächen.
Doch ihr Anführer, Scheich Ahmad Jassin, nutzte schon 1983 diese Freiheit, um sich und seine Anhänger zu bewaffnen, weshalb sie im Jahr darauf von einem israelischen Militärgericht zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. Als die im Dezember 1987 gegründete Hamas im August 1988 ihre Charta veröffentlichte, war sie von den Israelis schon längst als ernsthafte Bedrohung eingestuft worden, weshalb nur wenige Wochen danach ihre führenden Mitglieder verhaftet wurden.
Die Hamas war immer eine radikal-islamische Organisation
Ebenso wenig wie damals sind auch heute Zweifel daran, dass die Hamas eine radikal-islamische Bewegung ist, alles andere als angebracht. Sie hat sich bekanntlich von Beginn an als solche durch die Dschihad-Parolen in ihrer Gründungscharta und ihre entsprechend begründeten Terroranschläge profiliert.
Der Duden definiert „radikal-islamisch“ als „einer radikalen Form des Islam zugehörend, anhängend“. Wenn gegen die Anwendung dieser Beschreibung auf die Hamas etwa argumentiert wird, der bewaffnete Dschihad sei keine „radikale Form des Islam“, sondern fester Bestandteil der islamischen Tradition, muss dem im Falle der Hamas vehement widersprochen werden.
Denn sie hatte sich in dem Moment vom traditionellen islamischen Verständnis des Dschihad, das jegliches Anvisieren von am Kampf nicht beteiligten, nichtbewaffneten Personen verbietet, verabschiedet, als sie Selbstmordanschläge gegen israelische Zivilisten zu verüben begann – und diese Form des Terrorismus auch noch mit der Behauptung zu rechtfertigen versuchte, dass alle erwachsenen Israelis ohnehin Angehörige des Militärs und deshalb keine unschuldigen Zivilisten, sondern im Grunde Kombattanten seien. Die Hamas hat sich von ihren Selbstmordattentaten nie distanziert, im Gegenteil: Bis heute feiert sie ihre Selbstmordattentäter auf ihrer Internetseite als islamische Märtyrer.
Arabische Solidarität mit der Hamas bröckelt
Die arabischen Staaten standen dennoch lange hinter ihr, auch dann, als sie in der umstrittenen Frage der religiösen „Zulässigkeit“ von Selbstmordattentaten an ihrer Haltung unbeirrt festhielt – eine Haltung, die freilich längst nicht alle religiösen Autoritäten in der arabischen Welt teilen. Zeigten sich bei dieser Kontroverse schon um die Jahrtausendwende erste Risse in der arabischen Solidaritätsfront mit der Hamas, hatte es in Ägypten nach dem Militärputsch von 2013 den Anschein, als würden sie sich auf ägyptischer Seite, wo die Muslimbruderschaft – die Mutterorganisation der Hamas – gnadenlos verfolgt wurde, weiter vertiefen.
Als in den Jahren 2014 und 2015 Privatpersonen vor ägyptische Gerichte zogen und forderten, den militärischen Arm der Hamas (Qassam-Brigaden) und auch die Hamas-Bewegung selbst als Terrororganisation einzustufen, hatten sie damit zunächst Erfolg.
Doch als der ägyptische Staat daraufhin Berufung einlegte, wurde das Urteil gegen die Hamas revidiert – nicht aber dasjenige gegen die Qassam-Brigaden, das aber, wie es scheint, die ägyptischen Behörden ignorieren und nicht anwenden wollen. Einen neuen Anlauf nahm im März 2016 der ägyptische Anwalt Abdelrahim Ali Muhammad, doch auch sein Antrag auf eine Einstufung der Hamas als Terrororganisation wurde zwei Monate später von einem ägyptischen Gericht abgewiesen.
Auch als Ägypten gemeinsam mit Saudi-Arabien und einigen weiteren arabischen Staaten im Sommer 2017 einen Boykott gegen Qatar verhängte, wurde die Hamas nicht auf die von ihnen bei diesem Anlass aufgestellte Terrorliste gesetzt. In arabischen Medien sorgte diese Zurückhaltung für Verwunderung, wurde doch der Boykott gegen Qatar auch damit begründet, dass der Golfstaat radikale Organisationen wie die Muslimbruderschaft und die mit ihr verwandte Hamas unterstütze.
Schon bald aber wurde in den saudischen Medien der Ton gegenüber der palästinensischen Islamisten-Organisation schärfer. Einflussreiche regierungsnahe Zeitungen wie „Okaz“ und „Al-Riyadh“ starteten eine heftige Kampagne gegen die Hamas, die darin gipfelte, dass man sie als „terroristisch“ bezeichnete.
Dieses Vorgehen löste im Land wie in der arabischen Welt eine heftige Debatte aus, bei der Kritiker Saudi-Arabien vorwarfen, sich dem Druck der amerikanischen Trump-Regierung zu beugen und sich zudem den israelischen Regierungsdiskurs anzueignen.
Doch Riad ließ sich von dieser Kritik nicht sonderlich beeindrucken. Als die arabischen Außenminister auf ihrer Dringlichkeitssitzung in Kairo im November 2017 auf Antrag Saudi-Arabiens die terroristischen Umtriebe der pro-iranischen schiitischen Hizbullah verurteilten und die Hamas sich in gewohnter Manier heftig gegen diese Erklärung aussprach, wurde sie von keinem Geringeren als Dschamil al-Dhiyabi, Chefredakteur von „Okaz“, ermahnt, den Weg der Hizbullah nicht zu beschreiten.
Am 24. Februar dieses Jahres bezeichnete dann der saudische Außenminister Adel al-Dschubeir in einer Ansprache vor dem Europäischen Parlament in Brüssel die Hamas als „extremistische“ Organisation, worauf sie wie üblich mit Vehemenz reagierte.
Die veränderte saudische Rhetorik mag Teil einer gezielten Strategie Riads sein, solange Druck auf die palästinensischen Islamisten auszuüben, bis sie sich vom Iran, gegenwärtig dem größten Feind Saudi-Arabiens, gänzlich lösen. Aber gleichzeitig ist sie Ausdruck eines Sinneswandels. Denn nun scheint man auch in erzkonservativen Kreisen wie denen in Riad zu der Einsicht gelangt zu sein, dass die Hamas, deren islamischer Charakter dort nicht extra erwähnt werden muss, eine „radikale“ Organisation sei.
Joseph Croitoru
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