Die Wiederentdeckung der Pancasila

Seit 1998 ist Indonesien ein demokratisches Land. Es hat sich durch eine stabile demokratische Regierung, zivile Freiheiten und ein enormes Wirtschaftswachstum ausgezeichnet.

Von Luthfi Assyaukanie

Vor 1998 wurde die Türkei oft als Vorbild muslimischer Demokratie angesehen. Sie war nicht nur das einzige mehrheitlich muslimische Land, das säkulare Grundsätze streng anwandte, sie versuchte außerdem, eine demokratische Regierung aufrechtzuerhalten. Obwohl es gelegentlich Kritik an der militärischen Dominanz in der Politik der Türkei gab, sahen zu der Zeit noch viele Menschen die Türkei als einziges demokratisches muslimisches Land der Welt an.

Da nirgends in der gesamten muslimischen Welt eine demokratische Regierung vorhanden war, war die Existenz der türkischen Demokratie, so geringfügig sie auch sein mochte, eine Erleichterung.

Diese Ansicht änderte sich, als Indonesien sich im Jahre 1998 in ein demokratisches Land wandelte, nachdem es zuvor von einem autoritären Regime regiert worden war.

Acht Jahre danach wurde es von der US-amerikanischen Expertenkommission Freedom House als freies Land gekrönt – als einziges Land mit einer muslimischen Mehrheit, dem dieser Status zugesprochen wurde. Von den Ländern in Nordafrika und dem Nahen Osten wird nur Israel als freies Land angesehen.

Ein Vorbild für Ägypten?

Seitdem loben viele Regierende das Erwachen der Demokratie in Indonesien. US-Außenministerin Hillary Clinton nannte Indonesien ein Vorbild der Demokratie für die muslimische Welt. Sie glaubt, "die jüngste Geschichte Indonesiens liefert ein Beispiel dafür, wie ein Wandel hin zu einer zivilen Herrschaft vollführt wird und starke demokratische Institutionen erbaut werden".

Ebenso betonte Präsident Obama, dass die indonesische Demokratie ein Vorbild für Ägypten sein könne. Zudem hat er die indonesische Demokratie oft als vorbildliches Beispiel für den Rest der Welt gelobt. In Folge der Verbreitung der demokratischen Bewegungen in großen Teilen der arabischen Welt ist es notwendig, muslimische Demokratiemodelle zu untersuchen. Es gibt mindestens vier Gründe dafür, dass Indonesien ein gutes Modell ist.

Erstens ist Indonesien das bevölkerungsreichste muslimische Land der Welt, das einen politischen Wandel von einem autoritären hin zu einem demokratischen Regime erlebt hat.

Zweitens konnte es trotz der ethnischen Konflikte und religiösen Unruhen innerhalb der ersten Jahre des politischen Wandels eine politische Stabilität aufrechterhalten.

Drittens hat Indonesien sich als wirtschaftlich stabil erwiesen. Innerhalb der letzten sechs Jahre betrug das Wirtschaftswachstum des Landes etwa sechs Prozent. Während der globalen Finanzkrise im Jahre 2009 war Indonesien gemeinsam mit China und Indien das einzige Land, das ein Wirtschaftswachstum von über vier Prozent aufrechterhalten konnte.

Viertens ist Indonesien das einzige Land mit muslimischer Mehrheit, in dem islamische Parteien bei den Parlamentswahlen gescheitert sind. In Nordafrika und im Nahen Osten sind es stets die islamischen Parteien, die bei demokratischen Wahlen als Sieger hervorgehen.

Indonesien ist ein interessanter Fall, wenn man die Wechselwirkung zwischen Islam und Demokratie betrachtet. In Folge der islamischen Renaissance und der wachsenden demokratischen Bewegungen in Nordafrika und im Nahen Osten erlangt die Frage danach, ob die muslimischen Länder zunehmend islamisiert oder säkularisiert werden, eine besondere Bedeutung.

Doch zuerst möchte ich nun den historischen Hintergrund der Entstehung der Demokratie in Indonesien erklären. Der gegenwärtige Demokratisierungsprozess in Indonesien begann im Jahre 1998, genau genommen am 21. Mai, als Präsident Soeharto seinen Rücktritt öffentlich bekanntgab, nachdem er das Land 32 Jahre lang regiert hatte.

Diese Ankündigung war überraschend, da er gerade erst zum siebten Mal gewählt worden war und sich verpflichtet hatte, das Land weitere fünf Jahre zu regieren. Der Hauptgrund für Soehartos Rücktritt schien der öffentliche Druck zu sein, der von Studenten auf ihn ausgeübt worden war.

Studentische Bewegungen hatten das Parlament drei Tage lang besetzt, nachdem eine Woche zuvor (vom 14. bis 15. Mai) Aufstände die Hauptstadt zum Stillstand gebracht hatten. Indonesien befand sich am Rande des finanziellen und politischen Zusammenbruchs. Soehartos Rücktritt war die richtige Antwort auf eine heikle Situation.

Der Kampf für die Demokratie

Indonesiens Präsident Soeharto; Foto: AP
Zeitenwende für die indonesische Gesellschaft: Der Demokratisierungsprozess begann im Jahre 1998, als Präsident Soeharto seinen Rücktritt öffentlich bekanntgab, nachdem er das Land 32 Jahre lang autoritär regiert hatte; Foto: AP

​​Es ist nie leicht, einen politischen Wandel zu vollziehen, besonders wenn das Land von einem autoritären Militärregime regiert worden ist. Soeharto übergab die Regierung an seinen Stellvertreter Burhanuddin Jusuf Habibie, aber dieser wurde als Angehöriger desselben Regimes wahrgenommen. Durch die Wirtschaftskrise verschlimmert, war die indonesische Politik innerhalb der ersten drei Jahre ihres Wandels von Spannungen, Konflikten und Demonstrationen geprägt.

Die Menschen fühlten sich frei, zu sagen, was sie dachten. Die Demokratie ermöglichte es, Organisationen zu gründen, aus denen heraus man Menschen rekrutieren und mobilisieren konnte. Hunderte von Organisationen und Parteien wurden gegründet. Gruppen verschiedenster ideologischer Überzeugungen drängten sich in die Öffentlichkeit und brachten ihre eigenen Paradoxien hervor.

Die frühen Jahre der indonesischen Demokratie waren sehr chaotisch, und die Menschen begannen schon bald damit, über den Zerfall der Republik und über das Potenzial der Balkanisierung zu sprechen.

Das Volk war unzufrieden mit der neuen Regierung und es nahm sie als eine Fortsetzung der alten wahr. Die Zeit der Wirtschaftskrise war für das Land die schwierigste seit dreißig Jahren. Die Inflation erreichte 77 Prozent, die Zinssätze stiegen auf 68 Prozent, das Bruttoinlandsprodukt sank auf minus 13 Prozent und die Arbeitslosigkeit stieg auf 24 Prozent. Von Anfang an wurde Habibies Macht lediglich als Kurzzeitregierung angesehen.

Die Menschen wollten eine gerechte Wahl, in der sie ihre Regierenden wählen konnten. Für den politischen Übergang wurden verschiedene Gesetze entworfen und erlassen. Die Wahl wurde für Juni 1999 angesetzt. Sie war eine Parlamentswahl, in der die Wähler die Abgeordneten der Legislative wählten. Entsprechend der damaligen Verfassung, wurde der Präsident nicht direkt vom Volk, sondern von den Abgeordneten der Legislative gewählt.

In der Parlamentswahl von 1999 ging es nicht nur um die Wahl eines neuen Staatsoberhauptes und um die Hoffnung auf eine bessere wirtschaftliche Zukunft, auch die indonesische Demokratie und die Entwicklung des Landes stand auf dem Spiel.

Kurz nachdem die Parlamentswahl angekündigt worden war, wurden Hunderte von Parteien gegründet, die sich selbst bei der allgemeinen Wahlkommission (Komisi Pemilihan Umum, KPU) registrierten. Unter ihnen befanden sich auch islamische Parteien.

Von 160 Parteien, die sich bei der KPU anmeldeten, erfüllten nur 48 die Grundbedingungen und waren berechtigt, an der Wahl teilzunehmen. Unter diesen Parteien waren elf islamische Parteien, die es als ihre Mission ansahen, die Scharia, das islamische Gesetz, im Land einzuführen. Alle Parteien waren dermaßen optimistisch, dass ihre jeweiligen Vorsitzenden zuversichtlich den Gewinn ihrer eigenen Partei bei der Wahl vorhersagten.

Die "sieben Wörter" für die Verfassung

Bevor das Ergebnis der Wahl bekannt gegeben wurde, wusste niemand, was mit der indonesischen Demokratie passieren würde. Manche Menschen befürchteten den Aufschwung des politischen Islam und den möglichen Wahlsieg der Islamisten. Die Absichten der islamischen Parteien waren sehr deutlich: Sie wollten der Verfassung die "sieben Wörter" zurückgeben. Damit ist die Formulierung der Einführung der Scharia für alle Muslime in Indonesien gemeint.

Ursprünglich befanden sich diese sieben Wörter in der Verfassung, aber nach den Protesten einer christlichen Delegation wurden sie durch die Kommission zur Vorbereitung der Unabhängigkeit am 18. August 1945 entfernt. Im Laufe der jüngsten indonesischen Geschichte haben Muslime dafür gekämpft, diese Wörter wieder in die Verfassung aufzunehmen.

Sie versuchten es während der Regierungszeit von Soekarno, dem ersten Präsidenten der Republik, aber sie scheiterten. Ebenso versuchten sie es zu Zeiten Soehartos, aber damals war dies einfach unmöglich, da das Regime Gespräche über den politischen Islam nicht duldete. Erst als Indonesien zu einem demokratischen Land wurde, bot sich die Gelegenheit. Sie setzten all ihre Hoffnungen auf die Parlamentswahlen von 1999.

Schließlich übertraf das Ergebnis der Parlamentswahl alle Erwartungen. Als Gewinner ging die Indonesian Democratic Party for Struggle (PDIP) daraus hervor, eine säkulare Partei, die von der Tochter Soekarnos geleitet wird. Den zweiten Platz errang Golkar, eine weitere säkulare Partei, die während der Soeharto-Ära regiert hatte.

Unter elf islamischen Parteien errang nur eine Partei eine bedeutende Stimmenanzahl, nämlich die Development and Unity Party (PPP), die 10,7 Prozent erreichte. Der Rest erzielte weniger als drei Prozent. Die Stimmen für alle islamischen Parteien zusammengenommen, ergaben nicht mehr als 20 Prozent – also nicht genug, um im Parlament die Mehrheit zu stellen.

Dieses Ergebnis enttäuschte viele muslimische Führer, die sich den Sieg gewünscht hatten. Das, was kürzlich im Nahen Osten geschehen ist, hat sich in Indonesien nicht ereignet: Die Demokratie hat sich nicht auf die Seite der islamischen Parteien gestellt, um das Rennen um die politische Macht zu gewinnen.

Die Frage, der wir uns hier widmen sollten, ist, warum die Mehrheit der indonesischen Muslime nicht die islamischen Parteien gewählt hat, sondern ihre Stimme stattdessen den säkularen (oder nicht-religiösen) Parteien gegeben hat. Hat es keinen Islamisierungsprozess im Land gegeben? Warum zieht die Renaissance des Islam in Indonesien nicht den Machtgewinn des Islam nach sich?

Es gibt viele Antworten auf diese Fragen. Die erstaunlichste dieser Antworten ist, dass es eine radikale Veränderung in der politischen Denkweise der indonesischen Muslime gegeben hat. Einerseits aufgrund äußerlicher Faktoren, die von dem säkularen Militärregime Soehartos verstärkt wurden, andererseits aufgrund innerer Faktoren, die von liberalen Muslimen gefördert wurden.

Diese zwei Faktoren spielten eine wesentliche Rolle in der Veränderung der politischen Denkweise der Muslime und in ihrer Wahrnehmung der Demokratie. Im Folgenden gehe ich näher auf diesen Aspekt ein.

Islam und Demokratie

Neben dem Nationalismus und dem Kommunismus ist die Demokratie das am häufigsten erörterte Konzept unter indonesischen Muslimen. In den dreißiger Jahren fand zwischen zwei jungen Intellektuellen, die später wichtige Führer des Landes wurden, eine Debatte über den Nationalismus statt: Es waren Soekarno (1901-70) und Muhammad Natsir (1908-93). Als Stellvertreter der säkularen Gruppierung glaubte Soekarno, dass der Nationalismus das Heilmittel für die indonesische Einheit sei.

Währenddessen sah Natsir, der im Namen der islamischen Gruppierung sprach, den Nationalismus als eine Ideologie an, die die Glaubensüberzeugungen der Muslime schwächen könnte. Diese Debatte zwischen Soekarno und Natsir war ein klassisches Beispiel für die Meinungsverschiedenheit zwischen Säkularisten und Islamisten über verschiedene Themen aus den Bereichen der Politik und Religion.

Die Islamisten waren modernen Konzepten gegenüber, wie Nationalismus, Sozialismus und Demokratie, generell abgeneigt. Während ihre Gegenspieler, die Säkularisten, ohne zu zögern diese modernen Ideen unterstützten, kritisierten und verurteilten die Islamisten sie unter Zuhilfenahme islamischer Argumente. Ihre Ablehnung diesen Konzepten gegenüber fundierte hauptsächlich auf ihrem speziellen Verständnis islamischer Lehren, die sie als höherwertig als die säkularen Ideen betrachteten.

Natsir bevorzugte eine islamische Version der Demokratie: Eine Kombination aus der westlichen Form der Demokratie und dem islamischen Modell, bekannt unter dem Begriff Schura. Natsirs Abneigung gegen die Demokratie basierte auf seiner Auffassung, die Demokratie könne die islamischen Grundsätze verletzen. Er glaubte an die Existenz gewisser Dinge im Islam, die als endgültig (qat'i) angesehen werden, und die daher keine Möglichkeit bieten, sie in Frage zu stellen. Er nannte Glücksspiele und Pornografie als Beispiele für Themenbereiche, die indiskutabel seien. Das Parlament habe kein Recht, solche Dinge zu debattieren.

Während der frühen Zeit der Unabhängigkeit (in der Mitte der Vierziger Jahre), tendierten die muslimischen Führer dazu, sich dem Konzept der "islamischen Demokratie", und nicht nur der einfachen "Demokratie" gegenüber zu öffnen. Dieses Konzept wurde von muslimischen Intellektuellen und Wissenschaftlern stark gefördert.

Zainal Abidin Ahmad (1911-83), ein weiterer Anhänger des Konzeptes der islamischen Demokratie, behauptete, das islamische politische System sei keine Theokratie – wie viele Leute behaupten – sondern vielmehr eine Demokratie. Laut Ahmad sind die Wurzeln der islamischen Demokratie der Koran und das politische Leben in der frühen Generation des Islam unter den "rechtgeleiteten Kalifen" (al-khulafa al-rashidun). In den Versen 159 der Sure Ali Imran und 59 der Sure al-Nisa empfiehlt der Koran den Muslimen, bei Entscheidungsprozessen die bewährte "beratende Methode" anzuwenden.

Für Ahmad ist dies ein starkes Argument dafür, dass Muslime die Demokratie annehmen sollten. Ebenfalls glaubte er, "das frühe Kalifen-System war demokratisch, da es hinreichende demokratische Grundsätze unterhalten hat. Zu jener Zeit haben demokratische Instrumente, wie z. B. Volksversammlungen, Beratungen und soziale Institutionen, existiert."

Muslimische Führer wie Natsir und Ahmad glaubten nicht nur an die Demokratie, weil sie theologisch zu rechtfertigen war, sondern auch, weil sie glaubten, dass sie mit der Demokratie das Rennen um die politische Macht gewinnen konnten. Aus diesem Grund gründeten sie eine islamische Partei und nahmen dann an der Parlamentswahl von 1955 teil.

Die frühe Generation indonesischer Muslime verstand Demokratie im Allgemeinen als eine Herrschaft der Mehrheit und ignorierte den wesentlichen Kern der Demokratie weitgehend. Sie glaubten, da die Muslime die Mehrheit stellten, dass sie das Land ganz ihrem Geschmack nach regieren und die Rechte von Minderheiten ignorieren konnten. Sie nahmen die Demokratie begeistert an, da sie ihnen helfen konnte, bei den Parlamentswahlen die politische Macht zu erobern. Wenn sie die Wahl gewännen, würden sie das Parlament dominieren und die Verfassung ändern können. Dies war der Hauptgrund, warum die islamischen Parteien so versessen darauf waren, an der Wahl teilzunehmen.

Die indonesische Geschichte sähe anders aus, wenn die islamischen Parteien die Parlamentswahl von 1955 gewonnen hätten. In dieser Wahl erreichten alle islamischen Parteien 43 Prozent – genügend Stimmen, um die Regierung zu übernehmen, aber nicht genügend, um das Parlament zu lenken.

Das Gesetz macht eine Zweidrittelmehrheit der Parlamentsmitglieder erforderlich, um die Verfassung zu ändern. Natürlich waren die muslimischen Führer enttäuscht von diesem Ergebnis, aber sie realisierten nun voll und ganz die Tragweite der Demokratie. Mit dieser Niederlage akzeptierten sie aber gleichzeitig die Spielregeln: Sie gefielen sich in ihrer Position, die sie in der Wahl errungen hatten.

Muslimische Repräsentanten waren nun im Parlament vertreten und einige ihrer Führer waren in der Regierung aktiv. Burhanuddin Harahap (1917-1987), ein Führer der Masyumi-Partei, hatte von August 1955 bis März 1956 das Amt des Premierministers inne. Als Vorsitzender hatte er viel mit anderen Menschen zu tun und musste dem Gesetz entsprechend handeln. Er musste realisieren, dass er die Vision seiner Partei von einer islamischen Demokratie nicht würde durchsetzen können.

Die Rolle liberaler Muslime

Eine der positiven Seiten der Demokratie ist, dass sie die Menschen Geduld und Toleranz lehrt. Wenn man eine Wahl verliert, muss man anschließend vier oder fünf Jahre warten, bis man es erneut versuchen kann. Und wenn man eine Wahl nur knapp gewonnen hat, dann muss man sich auch mit den anderen Gewinnern auseinandersetzen. Man muss den „Wahl-Kuchen“ mit anderen teilen, um eine Regierung zu bilden – das haben die indonesischen Politiker gelernt.

Im Laufe der Regierung Soehartos hat sich vieles ereignet. Muslimen wurde es verwehrt, islamische Parteien zu gründen. Sie wurden dazu gezwungen, einer der drei Parteien beizutreten, die das Regime unterstützte, nämlich entweder Golkar, der Indonesian Democratic Party (PDI) oder der Development and Unity Party (PPP). Einige Wissenschaftler sind der Meinung, dass die Veränderung in der politischen Denkweise der Muslime zu einem großen Teil auf die Art und Weise zurückzuführen sei, wie sie von Soeharto behandelt wurden. Indonesische Muslime sind so lange politisch säkularisiert worden, dass ihre Einstellung der Politik gegenüber nicht länger dieselbe ist.

Es entspricht den Tatsachen, dass Soehartos Regierung eine entscheidende Rolle in der Veränderung der politischen Einstellung der Muslime spielte. Die Veränderung ist aber nicht nur auf die repressive Regierung des Landes durch Soeharto zurückzuführen, sondern auch auf die lang währende und leidenschaftliche Rolle, die die muslimischen Intellektuellen spielten. Was in Indonesien passiert, geschieht weder in Ägypten noch in anderen Ländern des Nahen Ostens.

Die Intellektuellen Indonesiens spielten bei der Veränderung der politischen Denkweise der Muslime eine wichtige Rolle. In Vorlesungen, veröffentlichten Schriften und vielfältigen Aktionen setzten sie sich für die Demokratie ein und delegitimierten die islamischen Parteien. Anders als in Ägypten und anderen Ländern des Nahen Ostens, fand die indonesische Reformbewegung stets innerhalb von Organisationen statt. Intellektuelle wie Abdurrahman Wahid (1940-2009), Ahmad Syafii Maarif (1935 geboren) und Nurcholish Madjid (1939-2005) sind bzw. waren muslimische Führer und Vorsitzende großer Organisationen.

Durch diese Organisationen teilten sie der muslimischen Gesellschaft ihre liberalen Ideen mit. Wahid tat dies mithilfe von Nahdlatul Ulama (40 Millionen Mitglieder), Maarif mithilfe von Muhammadiyah (30 Millionen Mitglieder) und Madjid im Rahmen der Islamic Student Association und ihrer Absolventen (über 10 Millionen Mitglieder).

In Ägypten hat sich die islamische Reformbewegung auf eine andere Art und Weise entwickelt. Großartige Intellektuelle wie Jamaluddin al-Afghani (1837-1897) und Muhammad Abduh (1849-1905) verfügten über keine Organisationen, innerhalb derer sie ihre Ideen verbreiten konnten. Diese Entwicklung zieht sich fort bis hin zu der heutigen Generation der Reformierer. Intellektuelle wie Hassan Hanafi (1935 geboren) und Nasr Hamed Abu Zayd (1943-2010) sind einzelne Denker ohne eine große Gruppe von Anhängern. Sie verbreiteten ihre Ideen in universitären Veranstaltungen und Wissenschaftsmagazinen. Ihre Ideen können noch so anspruchsvoll sein – sie bleiben begrenzt und dringen niemals tief in die gesellschaftliche Struktur ein.

Muslimische Intellektuelle in Indonesien haben sich sehr stark dafür eingesetzt, der muslimischen Gesellschaft Demokratie und Pluralismus nahezubringen. Einer der einflussreichsten Führer der Mitglieder von Nahdlatul Ulama war Abdurrahman Wahid. Als Kind aus guten Familienverhältnissen, absolvierte er seine Schulbildung in Bagdad und Kairo. Er war sowohl bei Muslimen als auch bei Nicht-Muslimen des Landes hoch angesehen. Er war vertraut mit der westlichen Literatur und versuchte, sie mit der islamischen intellektuellen Tradition zu verknüpfen.

Demokratie und Pancasila

Einer seiner bedeutendsten Beiträge für Indonesien war seine unermüdliche Kampagne für die Demokratie und Pancasila (die fünf Grundsätze) als einzige Grundlage des Staates. Seit der Unabhängigkeit bis hinein in die achtziger Jahre glaubten viele Muslime, die Annahme der Pancasila könne ihre islamische Überzeugung schwächen. Doch Wahid behauptete, Pancasila sei kein Gegensatz zum Islam. Während seiner Karriere als Intellektueller kritisierte und delegitimierte Wahid öffentlich die islamischen Parteien. Er verurteilte die Idee eines islamischen Staates und lehnte die formelle Einführung der Scharia ab.

Ein weiterer Intellektueller, an den man sich aufgrund seiner mutigen und das muslimische Denken herausfordernden Ideen erinnert, ist Nurcholish Madjid. Seit Anfang der siebziger Jahre setzte er sich regelmäßig für die Säkularisierung ein und appellierte an die Muslime, ihre religiösen Interessen von der Politik zu trennen.

Wahlen in Indonesien 2012; Foto: dpa
Politik nah am Volk: "Eine der positiven Seiten der Demokratie ist, dass sie die Menschen Geduld und Toleranz lehrt. Wenn man eine Wahl verliert, muss man anschließend vier oder fünf Jahre warten, bis man es erneut versuchen kann", schreibt Assyaukanie; Foto: dpa

​​Wie Wahid richtete auch er sich gegen die Idee eines islamischen Staates und islamischer Parteien. Seiner Meinung nach sollten Muslime ihren politischen Zielen im Rahmen nichtreligiöser (säkularer) Parteien nachgehen. Er glaubte, dass es viel wichtiger für Muslime sei, nicht für eine formalistische Agenda des Islam – wie die Einführung der Scharia – zu kämpfen, sondern vielmehr für die wesentlichen Dinge wie Gesundheitsversorgung, Sicherheit und Bildung.

In den achtziger Jahren gab es einige muslimische Intellektuelle mit religiösem Hintergrund, die sich für einen liberalen Islam einsetzten – damit ist der Islam gemeint, der liberale Werte wie Freiheit, Demokratie, Pluralismus und Toleranz unterstützt. Die meisten von ihnen schlossen sich großen islamischen Organisationen wie NU und Muhammadiyah an. Sie spielten eine entscheidende Rolle in der Aufklärung indonesischer Muslime.

Sie verbreiteten ihre flexiblen Interpretationen des Islam durch Massenmedien, Diskussionsforen, öffentliche Veranstaltungen und gemeinnützige Tätigkeiten, und appellierten an die Muslime, sich den modernen Herausforderungen zu stellen.

Die indonesische Demokratie ist zwar noch jung, aber sie wächst dynamisch an. Trotz der vielen Probleme, mit denen die indonesische Regierung konfrontiert wird, erhält das Land erfolgreich sein Wirtschaftswachstum aufrecht, kann einen Rückgang der Arbeitslosenquote, die Reformierung des Justizsystems und den Aufbau einer Infrastruktur verzeichnen. Seit 1998 fanden in Indonesien drei Parlamentswahlen statt, die allesamt von säkularen (nicht-religiösen) Parteien gewonnen wurden, nämlich von der Indonesian Democratic Party (1999), Golkar (2004) und der Democratic Party (2009).

Diese drei Parteien zeichnen sich durch eine große Hingabe für die Demokratie und den indonesischen Pluralismus aus. Die Zahl islamischer Parteien ist im Gegensatz dazu rückläufig. Gemäß einer kürzlich erfolgten Umfrage, die vom Indonesian Survey Institute (LSI) veröffentlicht wurde, geben die indonesischen Muslime auch in der nächsten Parlamentswahl im Jahre 2014 wieder den säkularen Parteien den Vorrang.

Trotz dieser optimistischen Sichtweise steht die indonesische Demokratie vor zwei großen Herausforderungen: Korruption und Intoleranz. In den vergangenen zehn Jahren hat die indonesische Regierung gegen die Korruption gekämpft. Es wurde ein unabhängiges Institut gegründet, die Komission für die Beseitigung der Korruption (Komisi Pemberantasan Korupsi, KPK), die dafür kämpft, korrupte Politiker und Beamte vor Gericht zu bringen. Hunderte wurden bereits inhaftiert und Hunderte weitere warten auf ihre Inhaftierung.

In der Zwischenzeit haben verschiedene Taten der Intoleranz die Einheit des Landes auf die Probe gestellt. Radikale islamische Gruppierungen sind die größte Gefahr für den Pluralismus und für die Harmonie im Land. Die indonesische Regierung hat hart daran gearbeitet, diese terroristischen Gruppierungen einzudämmen, und sie hat die moderaten Muslime dazu aufgefordert, gegen den islamischen Radikalismus zu kämpfen. Wenn das indonesische Volk und seine Regierung es schafft, diese Herausforderungen zu meistern, dann besteht eine sehr große Chance, dass das Land ein Vorbild für muslimische Demokratie wird.

Luthfi Assyaukanie

© Goethe-Institut 2012

Luthfi Assyaukanie ist Dozent der Politischen Philosophie an der Paramadina-Universität und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Freedom Institute in Jakarta. Er promovierte an der Universität von Melbourne, Australien. Er engagiert sich in der Bürgerrechtsbewegung und setzt sich für die Menschenrechte ein. Sein jüngstes Buch Islam and the Secular State in Indonesia, erschien 2009 auf Englisch.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de