Mitbestimmung ist keine Frage der Bildung

Nur weil in einer bestimmten Gesellschaft Analphabetismus weit verbreitet ist, darf dies noch lange nicht als Rechtfertigung für eine Diktatur herhalten, meint die renommierte ägyptische Schriftstellerin Mansoura Ez-Eldin.

Von Mansoura Ez-Eldin

An den Erfahrungen, die Ägypten seit der Revolution vom Januar 2011 machen muss, lässt sich beispielhaft verfolgen, mit welchen Schwierigkeiten Demokratisierungsprozesse in Gesellschaften mit hoher Analphabetenrate und unzulänglichem Bildungswesen zu kämpfen haben. Nach jedem Urnengang, bei dem die radikal-religiöse Rechte den Sieg davonträgt, werden Stimmen lauter, welche das "fehlende Bewusstsein der Massen" anprangern.

Manch einer fordert sogar, den "Ungebildeten" das Wahlrecht zu entziehen. Andere sehen die Lösung darin, die Stimmen jener Ungebildeten nur halb so stark zu gewichten wie die der Gebildeten. Einige Politiker halten die Chancen für einen demokratischen Wandel in einer solchen Gesellschaft bereits für verloren. Sie geben damit an, von den Gebildeten unterstützt zu werden, wohingegen die Unterstützer ihrer Gegner "irregeleitete Analphabeten" seien!

Fehlende Bildung ist kein Argument gegen die Demokratie

Bei den meisten, die solche Meinungen vertreten, handelt es sich um vermeintliche Vertreter des "demokratischen Lagers". Und dennoch sehen sie keinen Widerspruch darin, einem Großteil der Bevölkerung das Wahlrecht vorzuenthalten und die eigenen Spielregeln diktieren zu wollen.

Personenkult und Glorifizierung des Militärs: "Nach sechs Jahrzehnten Gewaltherrschaft überrascht es nicht, dass der Begriff Demokratie in den Köpfen der Menschen nur vage verankert ist", schreibt Ez-Eldin.

Jedes Mal, wenn das Problem des Analphabetismus in Ägypten und dessen Rolle als Demokratisierungshindernis zur Sprache kommt, bilden sich in der Regel zwei konträre Lager heraus: Die einen machen hochnäsig die Ungebildeten und die Armen für das Anwachsen der rechten, radikal-religiösen Strömungen verantwortlich. Die anderen wittern bereits elitäre Arroganz, wenn man den Analphabetismus als ein die gesellschaftliche Entwicklung hemmendes Problem auch nur zu erwähnen wagt.

​​Zwischen diesen beiden Positionen liegt ein breites Spektrum an Nuancen. Es ist sicherlich nicht abzustreiten, wie schwierig es ist, ohne ein gutes und allen Gesellschaftsschichten offen stehendes Bildungssystem ein demokratisches System etablieren zu wollen, welches die Bürger- und Menschenrechte achtet. Doch dürfen wir dabei zwei Aspekte nicht aus den Augen verlieren.

Das erste Argument versteht sich eigentlich von selbst: Nur weil in einer bestimmten Gesellschaft Analphabetismus weit verbreitet ist, darf dies noch lange nicht als Rechtfertigung für eine Diktatur herhalten – unter dem Vorwand, das Volk sei "noch nicht reif" für die Demokratie. Gerade in Ägypten ist es uns noch allzu gut in Erinnerung, wie Husni Mubarak und sein inzwischen verstorbener Geheimdienstchef Omar Suleiman diesen Vorwand ständig auf den Lippen führten.

Auch bei "Gebildeten" fehlt ein demokratisches Bewusstsein

Zweitens müssen wir der Tatsache ins Auge blicken, dass das Problem nicht allein in der mangelnden Lese- und Schreibkompetenz liegt. Es geht viel mehr um eine grundsätzlich mangelhafte politische Bildung, welche eine verzerrte Vorstellung von Demokratie vermittelt und sich nicht darum bemüht, den Schülern von klein auf Werte wie Menschenrechte und Gleichberechtigung in die Herzen zu pflanzen. Von daher ist es – will man dem demokratischen Wandel zum Erfolg verhelfen – absolut erforderlich, das bestehende Bildungssystem zu reformieren. Wir müssen die Lehrpläne von den Spuren der jahrzehntelangen Diktatur entstauben – genauso wie vom religiösen Fanatismus und von Propaganda durch die gegenwärtige Regierung.

Ein solch verwahrlostes Bildungswesen ist verantwortlich dafür, dass sogar manch ein ägyptischer Universitätsabsolvent tatsächlich meint, bei einem gewählten Präsidenten müsse man über Fälle von Mord, Folter und Menschenrechtsverletzungen hinwegsehen. Das Argument: Ein demokratisch gewählter Gewaltherrscher sei ja schließlich durch die Wahlurnen legitimiert! Da wundert es auch nicht, wenn eben jener gewählte Präsident - aus Unwissenheit oder in manipulativer Absicht - die demokratische Wahl mit dem islamischen Konzept des "Treueschwurs" verquickt. Dieses fordert absoluten Gehorsam gegenüber dem Herrscher und verteufelt jegliche Auflehnung gegen ihn.

Politischer Wettbewerb als Kampf zwischen Himmel und Hölle

Politische Verantwortung und Partizipation über alle sozialen Unterschiede hinweg: "Jeder Wähler sollte das Recht haben, eine seinen Überzeugungen entsprechende Entscheidung zu treffen. Niemand sollte ihm deshalb ein mangelndes politisches Bewusstsein oder Differenzierungsvermögen zum Vorwurf machen", so Ez-Eldin.

Nach sechs Jahrzehnten Gewaltherrschaft, während der es mit dem Niveau der staatlichen Schulen und Universitäten stetig bergab ging, überrascht es nicht, dass der Begriff Demokratie in den Köpfen der Menschen nur vage verankert ist. Damit sind die Bemühungen um eine Durchsetzung der Demokratie zahlreichen Widrigkeiten ausgesetzt. Die gefährlichste davon ist das Szenario einer Verbindung des Erbes der Militärdiktatur mit einer noch im Anfangsstadium befindlichen klerikalen Diktatur, welche die Religion zu ihren Zwecken einspannt.

So eine Vermischung kann in Ermangelung gesellschaftlichen Widerstands zu einem religiösen Faschismus führen, welcher Oppositionelle als Ungläubige brandmarkt und deren Blut im Namen der Religion vergießt. Deshalb brauchen wir auch eine Reform der konfessionellen Bildung. Es gilt, den religiösen Diskurs von seinen diffamierenden und diskriminierenden Ansichten gegenüber Frauen und Anhängern anderer Religionen zu befreien. Manche Prediger und Religionsgelehrte nutzen ihr Prestige bei den Gläubigen aus, um ihnen einzureden, wer sein Kreuz bei einem islamistischen Kandidaten mache, sichere sich damit quasi das Ticket ins Paradies. Der politische Wettbewerb entartet dadurch zu einem Kampf zwischen Himmel und Hölle, in dem die einfachen Leute leichte Beute und Kanonenfutter sind für eine Sache, die nicht die ihre ist.

Ungebildete Wähler haben ihren Instinkt

Aber sind es wirklich nur die Ungebildeten, die sich derart manipulieren lassen? Auch wenn die Stimmenanteile für Vertreter des rechten, radikal-religiösen Spektrums dort am höchsten sind, wo auch eine hohe Analphabetenrate zu verzeichnen ist, wäre es ein Fehler, daraus einen generellen Vorwurf gegen die Ungebildeten zu machen. Denn diese schlagen sich instinktiv auf die Seite dessen, dem sie die Lösung ihrer Probleme am ehesten zutrauen. Sie geben demjenigen ihre Stimme, der die Basisarbeit bei ihnen vor Ort nicht scheut.

Aber ihre Präferenzen können sich sehr schnell ändern, wenn sie herausfinden, dass sie getäuscht wurden. Sie treffen ihre Entscheidungen also nicht "irrational", sondern auf der Grundlage von Erfahrungen und Irrtümern. Sie können flexibel auf Veränderungen reagieren und sind nicht ein für alle Mal auf eine Partei festgelegt. Jeder Wähler sollte – ungeachtet seines Bildungsniveaus – das Recht haben, eine seinen Überzeugungen entsprechende Entscheidung zu treffen. Niemand sollte ihm deshalb ein mangelndes politisches Bewusstsein oder Differenzierungsvermögen zum Vorwurf machen. Umgekehrt lässt sich auch bei hochgebildeten Akademikern immer wieder Statusdenken beobachten, welches bürgerlichen Rechten und Freiheiten völlig zuwider läuft.

Eine Reform des Bildungssystems braucht Zeit

Es ist also ungerecht, die Ungebildeten jedes Mal an den Pranger zu stellen, wenn ein Demokratisierungsprozess ins Stocken gerät. Gleichzeitig wäre es heuchlerisch zu leugnen, dass der grassierende Analphabetismus ein Problem darstellt, dessen Lösung dringend in Angriff genommen werden muss. Die Reform und der Ausbau des Bildungswesens werden Zeit in Anspruch nehmen und setzen voraus, dass ein grundlegender Wille dazu vorhanden ist.

Bis es soweit ist, ruhen die Hoffnungen auf den zivilgesellschaftlichen Organisationen, unabhängigen Bürgerrechtsgruppen und politischen Parteien. Diese müssen ein politisches Bewusstsein schaffen, müssen die Bürger – ungeachtet all ihrer Verschiedenartigkeit – mit ihren Rechten und Pflichten vertraut machen und darauf drängen, dass die Reform des Bildungssystems unverzüglich in Angriff genommen wird.

Kurz gesagt: Wir müssen uns bewusst werden, dass es sich bei der Verankerung einer liberalen Demokratie nach Jahrzehnten der Unterdrückung um einen schwierigen und langwierigen Prozess handelt, welcher beständiger Anstrengungen an diversen Fronten bedarf. Nur so werden wir die durch schlechte Bildung bedingten Fehlentwicklungen besser einordnen können. Dann wird es uns auch leichter fallen, Lösungen zu finden, welche die Gleichheit zwischen allen Bürgern wirklich gewährleisten – ungeachtet ihrer Herkunft und Bildung.

Mansoura Ez-Eldin

Übersetzt aus dem Arabischen von Rafael Sanchez

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Mansoura Ez -Eldin, 1976 im Nildelta in Ägypten geboren, studierte Journalismus an der Universität Kairo und arbeitete bis August 2011 bei "Akhbar al-Adab", einem der wichtigsten Literaturmagazine Ägyptens. Ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. 2010 wurde sie als eine der besten arabischsprachigen Autoren unter 40 ausgewählt. 2010 war sie als einzige Frau für den International Prize for Arabic Fiction nominiert. Ihr Roman "Wara al-Firdaws" erschien in der deutschsprachigen Übersetzung von Hartmut Fähndrich im September 2011 unter dem Titel "Hinter dem Paradies" im Züricher Unionsverlag.