Die Revolution zuerst
An der Mugamma, diesem mächtigen, kafkaesken Gebäude, das so sehr Symbol von Misswirtschaft und Nepotismus ist, prangt ein kleines aber unmissverständliches Graffiti: Ein Porträt von Feldmarschall Hussein Tantawi hinter Gittern. Davor sitzen Hunderte und veranstalten einen Sitzstreik.
"Ich spüre keinen Wandel. Wir haben Mubarak gestürzt und Tantawi bekommen", steht auf einem Plakat, dass ein Mann im mittleren Alter vor seine Brust hält. Am vergangenen Freitag waren Hunderttausende auf den Tahrir-Platz gekommen, um ihrem Unmut über diese Situation Luft zu machen. Es war die größte Demonstration, die Kairo seit dem Sturz Mubaraks gesehen hat, und auch in anderen Städten im Land gingen die Menschen wieder zu Tausenden auf die Straße.
"Wir sind heute gekommen, um den gleichen Druck auszuüben, wie während der Revolution", sagt Mustafa Dessouki. "Wir sind gekommen, um den Sturz des Regimes zu verlangen, weil die ganze Regierung korrupt ist, nicht nur eine Person."
Kein Wandel – nirgendwo
Mustafa Dessouki ist kein Aktivist, kein "junger Wilder", er war politisch nie aktiv. Der 35-Jährige ist frisch verheiratet und arbeitet als Manager bei einem Privatunternehmen. Es geht ihm gut, aber die Situation in Ägypten sei nicht mehr tragbar. "Wirklich nichts hat sich verändert seit dem Sturz Mubaraks", sagt er, während er bei 40 Grad im Schatten über den prall gefüllten Tahrir-Platz läuft.
Die einzige Möglichkeit, um wirklich Änderungen vom Militärrat zu erzwingen, an dessen Spitze Tantawi steht, sei stetiger Druck. "Wir müssen bleiben und zeigen, dass sie mit uns nicht spielen können."
Die Frustration und Ernüchterung bei den Ägyptern über den politischen Kurs des Militärrats ist in den vergangenen Wochen stetig gestiegen. Am 28. Juni kam es zu brutalen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten, bei denen 1.000 Menschen verletzt wurden. Die Polizei schoss mit Tränengas und Gummigeschossen in die Menge. Die Übergriffe wurden als Beweis dafür gewertet, dass Mubaraks notorischer Polizeiapparat immer noch funktioniert.
Zudem haben umstrittene Gerichtsurteile in den vergangen Wochen für Unmut bei der Bevölkerung gesorgt.
Schwindendes Vertrauen in die Armeeführung
Die Gerichtsverfahren gegen den ehemaligen Innenminister Habib Al-Adly, seine Helfer und Polizeioffiziere, die wegen Mordes an Demonstranten angeklagt sind, werden immer wieder verschoben. Sieben Polizisten aus Suez, die wegen Mord inhaftiert waren, wurden wieder auf freien Fuß gesetzt wurden. Hinzu kommt, dass die ehemaligen Minister für Information, Finanzen und Bau von Vorwürfen der Korruption freigesprochen wurden.
Gleichzeitig wird Aktivisten und Menschenrechtlern vor Militärgerichten kurzer Prozess gemacht. Über 5.000 Zivilisten sollen in den vergangenen fünf Monaten von Militärgerichten zu teilweise jahrelangen Haftstrafen verurteilt worden sein. Währendessen stehen Mubarak und seine Söhne immer noch nicht vor Gericht.
"Die Militärführung tut nur so, als ob sie Reformen wollte. Im Grunde wollen sie keinen Wandel und wir können auch nicht wirklich von ihnen verlangen, dass sie ihre Kollegen vor Gericht stellen und verurteilen", sagt Mustafa Dessouki. Wie er denken mittlerweile viele Ägypter. Das anfängliche Vertrauen in den Militärrat scheint täglich zu schwinden.
Das Militär ist die einzige Säule des alten Regimes, die bisher völlig unberührt geblieben ist. Denn die Militärführung stellte sich während der Revolution auf die Seite der Demonstranten und wiederholt seitdem ihr Bekenntnis, eine zivile Demokratie in Ägypten einzuführen. Einzig die Taten sprechen seither dagegen.
Die Allmacht der Armee
Im Grunde ist es nicht verwunderlich, dass die Militärführung kein Interesse daran hat, den Status Quo zu ändern. Seit dem Militärcoup 1952 kamen alle Präsidenten des Landes aus dem Militär. Politisch wie auch wirtschaftlich ist das Militär die mächtigste Institution im Land.
Seit dem Friedensvertrag mit Israel 1979 hat das Militär etwa 36 Milliarden US-Dollar in Militärhilfe bekommen und ist damit der größte Empfänger von amerikanischer Militärhilfe nach Israel. Jedes Jahr kommen 1,3 Milliarden hinzu. Zudem herrscht das Militär über ein ausgedehntes Wirtschaftsimperium mit Firmen und Fabriken. Das genaue Budget ist nicht bekannt.
Im vergangenen Monat hat Hussein Tantawi anordnen lassen, das Militärrecht zu ändern. Ab jetzt sollen Korruptionsvorwürfe gegen amtierende oder pensionierte Militärs nur noch vom Militär selber untersucht werden.
Strategie der Spaltung
"Der Militärrat kooperiert nicht mit der Revolution, er versucht sie zu beherrschen", sagt Mustafa Dessouki. "Sie reagieren auf unsere Forderungen aber sie gehen nicht auf sie ein." So sei es auch nur ein Schachzug gewesen, Mubarak zu opfern um dann damit zu beginnen, die Bevölkerung zu spalten – in Islamisten und Kopten, Konservative und Liberale. "Der Militärrat benutzt dafür genau die gleiche Taktik wie schon Mubarak."
Die Muslimbruderschaft und andere islamistische Gruppen unterstützen im Gegensatz zu den meisten liberalen Parteien den Zeitplan der Militärführung für Wahlen. Die liberalen Parteien befürchten, dass die gut organisierte Muslimbruderschaft der größte Nutznießer früher Parlamentswahlen sein wird und mit einer Mehrheit dort die künftige Verfassung des Landes nach ihren Vorstellungen formen wird.
Doch wie viele Stimmen die Muslimbruderschaft in freien Wahlen für sich gewinnen kann ist fraglich. Ein ehemaliges Mitglied der Bruderschaft, Ibrahim al-Hudeiby, behauptet, dass nur etwa 15 Prozent der Ägypter die Muslimbrüder als Partei akzeptieren würden.
In die gleiche Kerbe
Auch Mustafa Dessouki glaubt nicht an einen Kampf zwischen Säkularen und Islamisten. "Das Regime übertreibt die Macht der Islamisten in ihrem eigenen Interesse." Es schlage seit Jahrzehnten in die gleiche Kerbe: "Ihr habt die Wahl, entweder wir oder die Fundamentalisten." Bewahrheitet habe sich das bisher nicht, aber das Regime bewahre sich mit dieser Taktik seine Machtposition.
Besonders für die Jugend der Muslimbruderschaft sind Islam und Zivilstaat kein Gegensatz. "Im Islam gibt es das Konzept des religiösen Staats überhaupt nicht", sagt Sondos Asem.
Asem ist aktives Mitglied der Bruderschaft und versucht in öffentlichen Debatten ihrem Publikum zu erklären, warum sie als Islamistin einen Zivilstaat unterstützt. "Der Islam sollte die Staatsreligion und die Hauptquelle der Legislative sein, denn seine Grundsätze sind Freiheit, Gleichheit, menschliche Würde und Gerechtigkeit." Sie sei entschieden gegen Geistliche, die Religion für ihre eigenen machtpolitischen Zwecke missbrauchen würden.
Seit dem Sturz Mubaraks hat der Militärrat das Parteiengesetz überarbeitet und es einfacher gemacht, Parteien zu gründen. Auch die Islamisten profitieren von dieser Neuerung. So hatte unter anderem die Muslimbruderschaft erst kürzlich die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei gegründet.
Anhaltender Generationenkonflikt
Doch mit der verstärkten politischen Beteiligung steigt auch der interne Konflikt bei den Islamisten. Immer offensichtlicher wird der Zwist bei den Muslimbrüdern, vor allem zwischen der alten und der jungen Garde. Ihren vorerst letzen Höhepunkt fand der Konflikt im Ausschluss fünf junger Mitglieder, die trotz eines Verbots des Führungskomitees der Bruderschaft ihre eigene Partei gründen wollen.
Auch lang gediente Mitglieder der Bruderschaft sind bei der Führungsspitze in Ungnade gefallen. So hat die Führungsgarde verlauten lassen, dass die Gruppe an den kommenden Präsidentschaftswahlen nicht teilnehmen wird. Nichtsdestotrotz hat ein hochrangiges Mitglied der Bruderschaft, der als liberal geltende Abdel Moneim Aboul Fotouh angekündigt, als Unabhängiger an der Wahl teilnehmen zu wollen.
Auch die Salafisten, die eine streng-konservative Form des Islams befolgen und eine Minderheit in Ägypten darstellen, haben mittlerweile eine eigene Partei gegründet. Einigkeit herrscht zwischen den islamistischen Parteien nicht, auch weil ihre Ideologien stark voneinander abweichen und von liberal bis extrem konservativ alle Tendenzen vertreten sind.
Trotz aller Differenzen hatten sich am letzten Freitag Muslimbrüder, Salafisten und Liberale auf dem Tahrir-Platz eingefunden. Für einen Tag vereinte sie alle das Motto: "Die Revolution zuerst".
"Es gibt Linke und Rechte in jeder Ideologie, aber in dieser Revolution geht es nicht um Religion", sagt Mustafa Dessouki als er bei Einbruch der Dunkelheit vor dem Stahlgerüst der verlassenen Bühne der Muslimbrüder steht. Im Gegensatz zu den liberalen Aktivisten wollen die Islamisten die Militärführung nicht öffentlich herausfordern und kritisieren. Sie halten daran fest, dass Wandel mit ihr möglich ist.
Daran glauben die etlichen Tausend Aktivisten im unbefristeten Sitzstreik auf dem Tahrir-Platz nicht. Sie glauben an die Macht des zivilen Ungehorsams. Sie haben den Verkehr zum Erliegen gebracht, versperren den Eingang zur Mugamma und wollen bleiben bis sie erhört werden. Bis jetzt haben Militär und Polizei die Proteste ignoriert.
Amira El Ahl
© Qantara.de 2011
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de