Als der Terror begann

Der Journalist Mike Smith beschreibt in einem neuen Buch den Aufstieg von Boko Haram von einer obskuren Sekte zur gefürchteten Terrorgruppe. Eindrücklich schildert er die Gewalt der Gruppe, doch viele Fragen nach den Zielen, Strukturen und der Finanzierung der Bewegung kann auch er nicht beantworten. Ulrich von Schwerin hat das Buch gelesen.

Von Ulrich von Schwerin

Wer die Ursprünge der nigerianischen Islamistengruppe Boko Haram verstehen will, die den Norden Nigerias mit Anschlägen, Überfällen und Entführungen seit Jahren in Schrecken versetzt, muss zum Juni 2009 zurückgehen. Damals rief die bis dahin weitgehend obskure islamistische Bewegung unter ihrem Anführer Mohammed Yusuf in der Stadt Maiduguri einen Aufstand gegen den nigerianischen Staat aus, den der salafistische Prediger als korrupt und illegitim brandmarkte. Nach einem Zusammenstoß mit der Polizei bei der Beerdigung eines seiner Anhänger, forderte Yusuf zum Gegenangriff auf:

„In der selben Weise, wie sie unsere Brüder auf dem Weg niedergeschossen haben, werden sie eines Tages zu unserer Versammlung kommen und das Feuer eröffnen, wenn wir dies unerwidert hinnehmen“, warnte Yusuf in seiner Moschee. „So wie sie dies getan haben, werden sie Terrorakte gegen Frauen verüben, wenn sie gelassen werden. Wir wollen lieber sterben, als darauf zu warten, dass sie unsere Frauen angreifen und uns bei unserer Versammlung erniedrigen. (…) Verrückte Soldaten! Solange sie nicht aus der Stadt abgezogen werden, wird es keinen Frieden geben.“

Aufstand gegen den korrupten Staat

So schildert es der mehrjährige Büroleiter der Nachrichtenagentur AFP in Nigeria, Mark Smith, in seinem neuen Buch „Boko Haram: Inside Nigeria‘s Holy War“. Was folgte, war eine Serie von Angriffen auf Polizeiwachen, Gefängnisse und Behörden, die in Maiduguri und weiteren Städten der Bundesstaaten Borno, Kano, Bauchi und Yobe zu tagelangen Unruhen und blutigen Straßenschlachten führten. Dann, am dritten Tag des Aufstands, schlug das Militär mit aller Härte zurück und legte mit Panzern und Mörsern Yusufs Moschee in Maiduguri in Schutt und Asche.

Soldaten in Nigeria. Foto: Getty Images/AFP/I. Sanogo
Das nigerianische Militär hat den Ruf, mit brutaler Gewalt gegen Boko Haram vorzugehen - und wird häuftig für als ineffizient und korrupt kritisiert. "Für Mike Smith ist klar, dass die Brutalität der Sicherheitskräfte viel zum Wandel Boko Harams von einer obskuren Sekte zu einer gefährlichen Terrorgruppe beigetragen hat", schreibt Ulrich von Schwerin.

Dutzende junge Männer, die der Mitgliedschaft bei Boko Haram verdächtigt wurden, wurden laut Berichten von Journalisten und Aktivisten in den Armenvierteln von Maiduguri standrechtlich hingerichtet. Der Boko-Haram-Führer Mohammed Yusuf wurde nach einem Verhör von der Polizei auf der Straße erschossen. Sein fast 80-jähriger Schwiegervater wurde ebenfalls zum Verhör fortgebracht, seine Leiche später mit einem Kopfschuss seinen Angehörigen übergeben. Insgesamt wurden bei dem Aufstand mehr als 800 Menschen getötet.

Für Mike Smith ist klar, dass die Brutalität der Sicherheitskräfte viel zum Wandel Boko Harams von einer obskuren Sekte zu einer gefährlichen Terrorgruppe beigetragen hat. Mehr noch sieht er das Erstarken der „nigerianischen Taliban“ als Reaktion auf die Korruption, die Ineffizienz und das Desinteresse des Staates an der eigenen Bevölkerung. Während sich Militärs und Politiker an den enormen Öleinnahmen bereicherten und luxuriöse Villen errichteten, so Smith, stagniere die Wirtschaft, die Infrastruktur verkomme und Schulen und Kliniken verfielen.

Wechselnde Militärdiktaturen

Seit der Unabhängigkeit von Großbritannien 1960 war Nigeria über Jahrzehnte von Putschen und wechselnden Militärdiktaturen geprägt, erst spät kam der Wandel zur Demokratie. Doch die Spannungen zwischen den Regionen, Ethnien und Konfessionen blieben und führten immer wieder zu Unruhen wie 2011 nach der Wahl von Präsident Goodluck Jonathan in der zwischen Christen und Muslimen geteilten Stadt Jos. Oft schürten Politiker die Konflikte noch und setzten im Wahlkampf kriminelle Schlägerbanden ein, um Gegner einzuschüchtern.

All dies trug besonders im mehrheitlich muslimischen Norden nicht zur Legitimität des säkularen Staates bei, der von vielen als Erbe der britischen Kolonialzeit gesehen wurde, schreibt Smith. Gerade bei jungen Männern ohne Perspektive stieß Yusuf mit seiner Kritik am Staat und dem westlichen Bildungssystem auf Anklang. In den frühen 2000er Jahren durch die Lehren des örtlichen salafistischen Predigers Scheich Jabar geprägt, radikalisierte sich Yusuf zusehends, so dass ihn sein Mentor schließlich verstieß und öffentlich seine Lehren als unislamisch verurteilte.

Foto: C.H.Beck Verlag

Wie Smith schreibt, war Yusufs Verständnis des Koran schlicht und seine Ideologie auf die Ablehnung des Staates und der westlichen Bildung beschränkt. Dies gab der Bewegung auch ihren Namen Boko Haram, was auf Hausa so viel wie „Westliche Bildung ist verboten“ bedeutet. Selbst nennt sich die Gruppe Jamaat-e ahl al-sunna li-d-dawa va-l-jihad (Vereinigung der Sunniten für den Ruf zum Islam und den Dschihad). Aber so unausgegoren bis exzentrisch Yusufs Predigten auch erschienen, konnten sich doch viele damit identifizieren.

Spektakuläre Anschläge

Nachdem der Aufstand in Maiduguri 2009 niedergeschlagen worden war, schien Boko Haram zunächst tot. Doch im Herbst 2010 mehrten sich die Zeichen, dass die Gruppe weiterbesteht. Nach einer Reihe teils spektakulärer Anschläge auf Gefängnisse, Behörden und Polizeiwachen, aber auch auf Märkte, Schulen und Kirchen war klar, dass Boko Haram unter ihrem neuen Anführer Abubakar Shekau in radikalerer und gefährlicherer Form wiederauferstanden war. Der Anschlag auf das UN-Hauptquartier im August 2011 machte die Gruppe dann auch international bekannt.

Smith, der bis 2013 für AFP über den Konflikt berichtete, schildert in seinem Buch detailliert die Gewalt der Anschläge, die Gespräche mit den Opfern und seine oft vergebliche Recherche nach den Hintergründen. Er schildert die Rücksichtslosigkeit des Militärs und die Unfähigkeit der Führung um Präsident Jonathan, eine Antwort auf die zunehmende Eskalation der Gewalt zu finden. Oft erschien die Regierung demnach auch schlicht unwillig, sich dem Problem zu widmen – so bei der Verschleppung hunderter Mädchen aus einer Schule der Provinzstadt Chibok.

So eindrücklich Smiths Schilderung der Gewalt ist, so unbefriedigend ist oft seine Analyse. Ganz offensichtlich wurde das Buch in aller Eile geschrieben und seine ungeordnete, sprunghafte Struktur scheint das Chaos im Land und die Ratlosigkeit im Umgang mit Boko Haram widerzuspiegeln. Viele Fragen zu den Zielen, den Strukturen und der Finanzierung der Gruppe bleiben offen. Womöglich war Smith als Reporter zu nah am Geschehen, um die nötige Distanz und analytische Klarheit zu haben. Womöglich ist es aber auch einfach zu früh, um eine differenzierte Studie dieses Konflikts und dieser zweifellos schwer fassbaren Gruppe namens Boko Haram vorzulegen.

Ulrich von Schwerin

© Qantara.de 2015

Mike Smith, „Boko Haram: Inside Nigeria‘s Unholy War“, I.B. Tauris, London, 2015, 230 S., 20.95 Euro. Das Buch ist Mitte Juli auf Deutsch als Taschenbuch unter dem Titel „Boko Haram: Der Vormarsch des Terror-Kalifats“ erschienen. C.H.Beck, München, 2015, 288 S., 14.95 Euro.