Gemeinsam gegen Ausgrenzung und Feindbilder
Wie kamen Sie als Israelin zum Neuköllner Förderverein "Morus 14"?
Hagar Levin: Ich kam 2012 nach Berlin für ein Jahr im Rahmen des deutsch-israelischen Freiwilligenprogramms "Kom-Mit-Nadev" (Hebräisch: Komm' Freiwilliger), um mich dort zu engagieren und Deutsch zu lernen. Bei "Morus 14" lernte ich Menschen aus dem gesamten Nahen Osten kennen. An der Universität in Israel hatte ich zwar die Geschichte des Nahen Ostens studiert, begegnete aber niemals Menschen aus diesen Ländern. Ich kannte den Irak, Syrien und Ägypten lediglich aus Büchern, anders als hier in Berlin-Neukölln.
Ihre Familie mütterlicherseits stammt aus dem Irak. Sprechen Sie auch Arabisch?
Levin: Nur ein bisschen. Hier im Verein ist unsere gemeinsame Sprache Deutsch, weil manche Kinder Türkisch sprechen, andere wiederum Arabisch.
Warum sind Sie nach Ende des Praktikums im Förderverein "Morus 14" geblieben?
Levin: Weil wir das Gefühl hatten, dass viele Jugendliche offen für den Dialog waren, gründeten wir im Verein das Projekt "Shalom Rollberg". Es ermöglicht den überwiegend muslimischen Kindern und Jugendlichen Begegnungen mit Juden, die ihnen kostenlose Bildungsaktivitäten anbieten. So können sie Juden und Israelis als Menschen erleben. Wir haben inzwischen eine Englischgruppe, eine Kunst-, Theater- und Sportgruppe und führen einen Modedesignkurs durch.
…Auch Modedesign für Kopftuchträgerinnen?
Levin: (lacht) Die Modedesigngruppe wird von einer israelischen Modedesignerin geleitet und besteht aus jungen Mädchen – die Familien kommen aus dem Libanon, Algerien, Marokko und der Türkei. Es kommen sowohl Mädchen mit Kopftuch als auch ohne. Mode interessiert doch alle Menschen, egal aus welchem Kulturkreis stammen.
Wie schwer ist es, mitten in diesem "Problemkiez", wo 80 Prozent der Jugendlichen einen Migrationshintergrund haben, ein Projekt namens "Shalom Rollberg" zu führen? Akzeptiert man hier das hebräische Grußwort "Shalom"?
Levin: Im Rollbergkiez leben 6.000 Menschen aus 30 Nationen zusammen. Die Einwohner sind daran gewöhnt, verschiedene Sprachen zu hören. Ich habe aber auch schwierige Momente erlebt, weil zum Beispiel in der Schule "Jude" ein Schimpfwort ist.
Auch bei "Morus 14"?
Levin: Bei "Morus 14" hören wir das nicht so häufig. Am Anfang haben viele Familien gar nicht mit mir gesprochen. Sie hatten nie in ihrem Leben einen jüdischen Israeli getroffen, nur viel über sie gehört. Für viele Kinder war es daher sehr schwer zu glauben, dass ich jüdisch bin. Sie dachten, dass alle Juden orthodox aussehen und nicht wie normale Menschen. Das war auch mit vielen Eltern so. Durch regelmäßige Führungen mit dem Rabbiner Daniel Alper in der Neuen Synagoge oder zum Beispiel durch Feierlichkeiten wie beim jüdischen Lichterfest Chanukka versuchen wir in den Gruppen, der antisemitischen Propaganda entgegenzuwirken.
Haben manche Eltern ihren Kindern verboten, zu "Morus 14" zu kommen?
Levin: Nicht alle schicken ihre Kinder zu uns. Aber 130 Kinder sind in unseren Gruppen aktiv und 50 weitere stehen auf unserer Warteliste. Ich leite die Gruppen zusammen mit fünf jüdischen Freiwilligen und unterrichte dazu Englisch. Zusätzlich bekommt jeder Schüler einen Helfer oder Mentor gestellt, der ihn oder sie einmal in der Woche trifft und bei den Hausaufgaben hilft. Denn Bildung steht bei vielen Eltern an erster Stelle. Und wir bieten das kostenlos an.
Versteht sich Ihre Arbeit auch als eine Art Präventionsprogramm, damit Kinder in ihrer Freizeit nicht in schlechte Kreise geraten?
Levin: Kinder und Jugendliche haben uns erzählt, dass sie auf der Straße von Islamisten angesprochen werden, die ihnen ihre Facebook-Seiten zeigen und gemeinsame Fotos mit ihnen machen. Diese Radikalen sind Teil des Alltags hier im Kiez geworden. Um sie zu bekämpfen, muss man in einem Projekt wie unserem Zeit und Geld investieren. Unsere freiwilligen Schülerhelfer versuchen jedenfalls, mit den Kindern darüber zu sprechen, dass auf diesen radikalen Webseiten gegen Juden und Schwule gehetzt wird. Wir sind hier, um den Kindern andere Wege zu zeigen.
Haben Sie bislang auch negative Reaktionen erfahren müssen?
Levin: Nein, aber viele fragen, was zum Beispiel in Gaza los ist. Sie erfahren viel von Gesprächen auf der Straße und in bestimmten Medien, so dass sie manchmal schlichtweg falsch informiert sind.
Wie sieht die Zukunft dieses Projektes aus, das immer wieder vor dem finanziellen Aus steht?
Levin: Die Finanzierung ist immer sehr kompliziert. Wir werden zurzeit unter anderem von der Hertie-Stiftung, der Stiftung der Berliner Sparkassen und von vielen Privatspendern gefördert. Aber wir müssen immer wieder um unsere Existenz kämpfen, denn Geld vom Bezirk Neukölln, von der Stadt Berlin oder vom Staat erhalten wir bislang nicht.
Das Interview führte Igal Avidan.
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