Mit eiserner Faust
Die sogenannte "Vereinigte Arabische Republik" zwischen Syrien und Ägypten bestand nur von 1958 bis 1961. Damals war ich noch ein kleiner Junge in Damaskus und zu dem wenigen aus jener Zeit, woran ich mich erinnern kann, gehört der Anblick des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nassers vor dem offiziellen Gästehaus der Regierung wie er zu den begeisterten Massen sprach, die ihm frenetisch zujubelten. Ich bildete mir mit meinen vier Jahren ein, mit den "Nasser, Nasser!"-Rufen sei ich gemeint!
Und auch das verstohlene Geflüster meiner Eltern über die zunehmend willkürliche Kontrolle durch die Geheimdienste, die Einschüchterungen, Folterungen und manchmal auch Ermordungen von Oppositionellen sind mir im Gedächtnis geblieben. Dabei war Willkürherrschaft bei uns ja nichts Neues mehr und Folter keineswegs unbekannt.
Was jedoch neu war, war die organisierte Struktur, die die Geheimdienste von Abdelhamid al-Sarraj, dem starken Mann Syriens damals, in dieses Willkürregime einbrachten. Das Ganze bekam Methode, wurde institutionalisiert, so dass fortan Kontrolle, Zensur, Spionage und Folter zu hoheitlich monopolisierten Mitteln in der Hand des Regimes wurden, um jegliche Opposition mundtot zu machen und teilweise sogar zu liquidieren. Die Bürger sollten derart eingeschüchtert werden, dass sie gleich ganz von jeglicher Aktivität Abstand nehmen würden, durch die sie womöglich bei den Herrschenden in Ungnade fallen könnten.
Vor Al-Sarraj und Gamal Abdel Nasser war die staatliche Verfolgung stark von den Launen und Stimmungen der Herrscher geprägt gewesen, sie richtete sich oft nach sehr persönlichen Erwägungen. Hinzu kamen Aspekte wie die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stamm, Macht- und Einflusskalküle sowie die Werte machistischer Männlichkeit, nämlich Großmut und Vergebung einbezogen, wie sie in den meisten der ja noch ganz jungen arabischen Nationalstaaten in ihrer vormodernen Strukturen tief verankert waren. Nach Al-Sarraj und Nasser wurde die staatliche Verfolgung jedoch ein untrennbarer struktureller Bestandteil des Machtapparats und ein zentrales Kontrollinstrument des Staates.
Alle Macht den Geheimdiensten
Das Modell machte in der Folge in allen anderen arabischen Ländern Schule, gleichgültig, ob sich deren Staatsform nun offiziell Königreich, Emirat oder Republik nannte. Die Regime, die mit einer Mischung aus althergebrachten despotischen Traditionen, Sitten und Gebräuchen in ihr politisches Leben gestartet waren, erlebten in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine unverhältnismäßig starke Entwicklung ihrer organisatorischen Strukturen und ihres Herrschaftsapparates, wobei dem Geheimdienstapparat nicht nur quantitativ der Löwenanteil zukam. Dieser wurde auch am besten ausgestattet und erhielt rechtlich sowie finanziell den größtmöglichen Spielraum.
Die Geheimdienste wurden dadurch zu den stärksten und unabhängigsten Institutionen dieser Staaten, sie waren fortan niemandem mehr Rechenschaft schuldig – außer dem allmächtigen Alleinherrscher, der sich unter dem Vorwand, frühere pseudo-politische Systeme zu schützen, von diesen losgesagt hatte, und um dessen Gunst die Geheimdienste nun untereinander buhlten.
Unterdrückung und Folter wurden nun systematisch angewandt. Deren Instrumente, Begrifflichkeiten und autoritäres Gebaren sind seither vom Atlantik bis zum Golf im kollektiven arabischen Bewusstsein fest verankert. Begriffe wie "Informant", "Sicherheitsagent" und "nächtliche Besucher" fanden Eingang in die Umgangssprachen als moderne Synonyme für ältere und weniger realitätsnahe Beschreibungen wie "Butzemann", "Ungetüm" und "Geist", die jedoch dasselbe meinten.
Diese Entwicklung manifestierte sich aufgrund der zunehmenden Ausrichtung der republikanischen arabischen Herrschaftsformen nach der vernichtenden Niederlage von 1967 hin zum Absolutismus, wobei sich die Herrscher auf eine ohnehin bestehende tiefgreifende und verheerende Stagnation des kulturellen und geistigen Lebens stützen konnten.
Systeme totaler Kontrolle
Das immer willkürlichere Eingreifen der herrschenden Regimes in das öffentliche Leben, der zunehmende Würgegriff nach der Zivilgesellschaft zur Sicherung von Macht und Privilegien kamen keinesfalls aus dem Nichts. Vielmehr fußten sie auf einem geistigen Erbe, das den Weg für ebendiese Perfidität der Regime ebnete, wie wir sie in den letzten drei Jahrzehnten und insbesondere nach dem "Arabischen Frühling" wieder erlebt haben.
Dabei wirft das neuerliche Zerplatzen des Traums von einer modernen arabischen Bürgergesellschaft ein Schlaglicht auf die vorangegangenen Militärputsche und den Aufstieg der skrupellosen arabischen Regime der fünfziger und sechziger Jahre.
Doch selbst dieses frühere Scheitern ging im Grunde bereits auf ein viel älteres, totalitäres Erbe zurück – als über Jahrhunderte hinweg Emire, Könige und Sultane ununterbrochen absolutistisch herrschten, indem sie ihre Macht in einem spezifisch islamrechtlichen Rahmen von einer Schar Religionsgelehrter absegnen ließen. Am Trefflichsten spiegelt sich die Rollenverteilung bei den jeweiligen Machthabern und ihren Rechtsgelehrten und Schreiberlingen wider, die sich unterwürfig einfügten, den Staat verwalteten und das Vorgehen der Diktatoren gegenüber ihren Untertanen rechtfertigten.
Daran änderte auch die Entstehung moderner Nationalstaaten im zwanzigsten Jahrhundert nur wenig. Trotz des modernen Anstrichs, den die postkolonialen Regimes und die gebildeten Schichten den altüberlieferten Regeln des Wissensgewinns zwangsweise zu verleihen suchten, entwickelten sich diese in keinster Weise weiter. Und sie wurden nur sehr selten überhaupt kritisiert, sondern meist zur weiteren Konsolidierung des Machtanspruches genutzt, selbst wenn mancher vielleicht zumindest im Privaten versuchte, die alten Konventionen hinter sich zu lassen.
Dies sollte auch unter den als besonders "progressiv" geltenden Bewegungen wie der Baath-Partei in Syrien und dem Irak der Fall sein, die später die Macht übernahmen. Und auch später noch, als Anwar al-Sadat in Ägypten als Nachfolger Gamal Abdel Nassers eine westlich-liberal ausgerichtete Politik betrieb und das Land in eine freie Marktwirtschaft zu verwandeln versuchte.
Traditionellere Regime brauchten gar nicht erst den Anschein erwecken. Sie mussten sich nicht modern und fortschrittlich geben, sondern konnten ihre klassischen Herrschaftsstrukturen beibehalten und diese höchstens mit zeitgemäßeren Unterdrückungsformen ergänzen.
Schleichender Niedergang des Humanismus
Unter diesen kritischen Umständen hatte es das zarte Pflänzchen des Humanismus, das uns als ein Produkt des modernen Denkens erreichte, natürlich besonders schwer. Es kränkelte vor sich hin und ging bereits nach kurzer Blütezeit infolge ungebrochener Vorrangstellung der Rechte des Kollektivs gegenüber den Rechten des Individuums gänzlich ein. Die eiserne Faust, mit der alle arabischen Regime ohne nennenswerte Ausnahme regierten, ließ dieser Pflanze gar keine Chance.
Erstes Opfer dieser Politik wurden nämlich die ohnehin nur bescheidenen, in Gesetzen und Verfassung verbrieften Rechte, denen die totalitären Regime gänzlich den Garaus machten. Es folgte der Niedergang des humanistischen, kritischen Denkens, das Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts kurz in den Werken von Denkern und Literaten aus den Ländern des damaligen Groß-Syriens, aus Ägypten, dem Irak und Nordafrika aufgekeimt war, ebenso wie der Abbau erster Gewerkschaftsstrukturen in diesen Staaten.
Dies alles schuf ein Klima, das es den Regimen ermöglichte, sich jeglicher Beschränkung ihrer Macht durch Moral, Gesetze oder Verfassung zu entziehen, um an Macht und Privilegien festzuhalten, so dass sie mit ihrer Willkür nun völlig ungebändigt schalten und walten konnten. Die Zahl der sogenannten politischen Gefangenen, die ohne Gerichtsverhandlung und Anklage eingesperrt, gefoltert und vielfach auch umgebracht wurden, stieg rasant an. Die Regime brauchten nicht einmal mehr ein juristisches oder moralisches Deckmäntelchen, um ihr Wüten zu rechtfertigen. Sie verleugneten schlicht ihr kriminelles Handeln und ließen sorgfältig alle Informationen über ihr brutales Treiben beseitigen.
Und da sind wir nun heute angelangt: Unsere maroden Regime auf der einen Seite wetteifern miteinander in Hinblick auf Unterdrückung, Vertreibung, Entziehung der Staatsangehörigkeit, Folter und Mord. Auf der anderen Seite überbieten sich ihre bewaffneten Feinde – insbesondere die dschihadistischen, extremistischen Gruppierungen – in ihrem mörderischen Kampf. Beiden Seiten ist die Menschlichkeit abhanden gekommen oder haben diese gar bewusst als Teil einer von ihnen abgelehnten humanistischen Kultur seit langer Zeit über Bord geworfen.
Doch auch wir, das Volk und die Bürger, haben unsere Menschlichkeit verloren. Wir haben uns damit abgefunden, dass die brutale Vormacht von Unrechtsstaaten nun mal eine irreversible Tatsache ist. Wir setzen uns nicht mehr kritisch mit der katastrophalen Menschenrechtslage auseinander und lassen die Gefangenen und Opfer der Diktaturen völlig aus dem Blick.
Stattdessen haben wir uns daran gewöhnt, dass Folterszenen in sozialen Netzwerken wie selbstverständlich zirkulieren und beobachtet werden. So war es denn auch keine Offenbarung, als der japanische Orientalist Nobuaki Notohara bereits 2003 anmerkte: "Die politischen Gefangenen in der arabischen Welt haben sich für das Volk geopfert, doch das Volk selbst opfert diese mutigen Menschen. Ein Gefühl der Verantwortungslosigkeit beherrscht diese Gesellschaften." Mir bleibt nur noch hinzuzufügen: Und ein Gefühl der Unmenschlichkeit.
Nasser Rabbat
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Nasser Rabbat ist syrischer Autor und Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT).
Aus dem Arabischen von Nicola Abbas