Alte Konflikte in neuen Grenzen
Ein Jahr ist vergangen, seit der Sudan in zwei Staaten geteilt wurde. Der politische Konflikt zwischen Nord und Süd war jahrzehntelang in einem blutigen Bürgerkrieg ausgetragen worden, der mit dem "Comprehensive Peace Agreement" (CPA) von 2005 beendet sein sollte und mit dem Referendum im letzten Jahr zur Entscheidung des Südsudan für die endgültige Unabhängigkeit von Khartum führte.
Sudans Staatspräsident Omar al-Bashir beteuerte im Vorfeld nicht nur, das Ergebnis dieses Referendums anerkennen zu wollen, mit überschwänglicher Gestik war er auch der Erste, der dem neuen Staat zu seinem Schritt in die Eigenständigkeit gratulierte und diplomatische Beziehungen zum neuen Nachbarn aufnahm.
Die hohen Erwartungen an die Unabhängigkeit des Südsudans konnten die tief sitzenden Konflikte des Landes nur kurze Zeit überdecken. Die Menschen im Süden erhofften sich die lang ersehnte Befreiung von der Fremdbestimmung Khartums, bessere Lebensbedingungen, sichere Straßen, eine geregelte Arbeit und auch Demokratie.
Dass man im Sudan, weder im Norden noch im Süden, damit bisher relativ wenig überzeugende Erfahrungen machen konnte, ist nur eines von vielen Problemen, die seit der Abspaltung umso stärker wieder zum Vorschein gekommen sind.
Ungeklärte Streitfragen
Die Hauptfragen betreffen auch Monate nach der Unabhängigkeit des Südsudans vor allem die Grenzziehung, den Status der im Norden lebenden Südsudanesen, die Aufteilung der Einnahmen aus dem Ölgeschäft, die weitere Handhabung des Nilwasserabkommens und eine Regelung über die Nutzung der Ressourcen auf beiden Seiten der Grenze für nomadische Stämme.
"Wichtige Ziele des umfassenden Friedensabkommens, allen voran die Konsolidierung des fragilen Friedens, die demokratische Transformation und die Versöhnung der ehemaligen Konfliktparteien wurden nicht umgesetzt", kritisiert Jan van Aken, außenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE im Bundestag. Jetzt rächt sich, dass die Klärung dieser Fragen nicht vor der endgültigen Abspaltung in Angriff genommen wurde, sondern in ferne Zukunft vertagt wurde.
Von einem funktionierenden Management an der neuen Grenze zum Süden ist der Sudan ohnehin weit entfernt. Streitigkeiten um die ölreichen Regionen Abyei und Heglig, haben in den vergangenen Monaten mehrfach zu Gewalteskalationen geführt, in die nicht nur die Armeen beider Staaten, sondern auch bewaffnete Milizen verschiedener Stämme verwickelt sind. Ein Protokoll des CPA sah für diese Gebiete "Konsultationen der Bevölkerung" vor, um deren endgültige Zugehörigkeit zu einem der beiden Staaten zu klären, diese fanden jedoch nie statt. Etwaige Friedensgespräche werden damit auf eine denkbar zerbrechliche Basis gestellt.
Neben diesem neuen Kampfschauplatz rücken nach der Abspaltung des Südsudans wieder andere, mitunter weniger beachtete Konfliktherde in den Mittelpunkt. Nach wie vor stehen Militäreinsätze der sudanesischen Armee in Darfur auf der Tagesordnung, in den Nuba-Bergen in Südkordofan droht ein schon seit Jahren tobender Konflikt erschreckende Ausmaße anzunehmen.
Auch in der Provinz Blauer Nil und im Osten des Landes wurden in der Vergangenheit schon Stimmen laut, die Anspruch auf Selbstständigkeit erhoben. "Auch wenn die Regierung Al-Bashirs sehr darauf bedacht ist, die Unabhängigkeit des Südens nicht zu einer für sie teuren Angelegenheit werden zu lassen, ist diese befreiende Erfahrung, wie sie im Süden gemacht wurde, geradezu ansteckend", meint Dr. Alfred Sebit Lokuji, Professor an der Uni Juba. Es wächst also die Wahrscheinlichkeit, dass diese Forderungen in Zukunft noch lauter werden und eine weitere Zersplitterung des Sudans droht.
Abgesehen davon ist auch der Süden weit davon entfernt, die Stammeskonflikte auf seinem Gebiet beizulegen. "Der längste Krieg, der um die Etablierung einer nationalen Identität, hat noch gar nicht begonnen. Es gibt viel Raum für die Dominanz ethnischer Spannungen auf der politischen Bühne", so Lokuji.
Extreme Ungleichheit zwischen Zentrum und Peripherie
Das Problem der verschiedenen Regionen im Nordsudan besteht darin, dass eine extreme Ungleichheit zwischen dem politischen Zentrum in Khartum und den ländlichen Gebieten herrscht, die sich entsprechend im Wohlstandsgefälle widerspiegelt.
Die Regierung betreibt seit Jahrzehnten eine von Klientelwirtschaft dominierte Politik, die gewaltige Geldsummen aus dem Staatshaushalt wie aus internationalen Zuwendungen verschlingt und in der Loyalitäten und Anhänger eingekauft werden. Dazu fließen fast 70 Prozent des Etats in die Verteidigung. In Phasen der wirtschaftlichen Stagnation, wie jetzt nach dem Wegbruch der Einnahmen aus der Ölförderung, macht sich diese einseitige Verwendung der Finanzen besonders bemerkbar. In großen Teilen der Bevölkerung hat die "National Congress Party" (NCP) al-Bashirs jedes Vertrauen eingebüßt.
Dennoch blieben größere Demonstrationen bis jetzt aus. Die Protestbewegung der arabischen Nachbarstaaten hatte im Januar 2011 zwar für kurze Zeit auch den Sudan erreicht, und zurzeit sind es vor allem Studenten der Hochschulen in und um Khartum, die sich auf die Straße wagen. Doch diese Proteste bleiben isoliert, von kurzer Dauer und konzentrieren sich meist auf alltägliche Probleme der Bevölkerung, die vor allem mit der schlechten Infrastruktur, Wasser- und Stromausfällen sowie heftigen Preissteigerungen zu kämpfen hat.
Chancen für die Entwicklung einer landesweiten Bewegung bestehen jedoch kaum. Neben der fehlenden Organisation und dem extrem repressiven Vorgehen der Sicherheitskräfte ist es vor allem die Erinnerung an den Bürgerkrieg vor 20 Jahren, die die Sehnsucht nach einer Revolution dämpft.
Dennoch besteht die Chance, dass die Erhebungen doch ihren Widerhall im Sudan finden. "Es ist nur eine Frage der Zeit", ist sich Lokuji sicher. "Auch wenn die Elite in Khartum einen Arabischen Frühling à la Sudan wohl überleben würde – so wie ihre Partner in Ägypten ihn überlebt haben – könnte ein fundamentaler Wandel nicht mehr weit entfernt sein."
Interessanterweise suchen allerdings sowohl die Regierung, als auch die Opposition eine engere Bindung an die nördlichen Nachbarstaaten, gibt van Aken zu bedenken. "Präsident al-Bashir sieht vor allem in den ägyptischen Muslimbrüdern potenzielle Verbündete. Die Opposition bemüht sich um eine Vernetzung mit den fortschrittlichen Bewegungen in Ägypten und Tunesien."
International war es um den Sudan nach der Abspaltung des Südens zunächst still geworden. Der neue Staat wurde mit Freudenjubel in die internationale Gemeinschaft aufgenommen und zu seinem Schritt in die Unabhängigkeit beglückwünscht, mit der sudanesischen Zweistaatenlösung werde schon alles gut, so die offizielle Stimmung.
Politische Parteinahme für den Südsudan?
Aber abgesehen von der notwendigen Unterstützung für den Südsudan, dessen Regierung momentan auch weit davon entfernt ist, echten Pluralismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen, bot die Unabhängigkeit insbesondere den europäischen Staaten und den USA die Möglichkeit, ihre Beziehungen zu Khartum neu auszurichten. Konkret war geplant, die Sanktionen der USA gegen den "Schurkenstaat" aufzuheben, ein Versprechen, das angesichts der jüngsten Entwicklungen jedoch wieder relativiert wurde.
In dieser Vorgehensweise sieht van Aken eine "einseitige Unterstützung des Südsudans." Er fordert, dass sich "das zukünftige internationale Engagement gegenüber den beiden sudanesischen Staaten von dem bisherigen Gut-Böse-Denken lösen" müsse und auch wieder mit dem Sudan diplomatische Beziehungen aufgenommen werden sollten.
China dagegen versucht sich zurzeit an einem Balanceakt zwischen Nord und Süd. "Sein unmoralisches Verhalten im Ölgeschäft in den Jahren vor dem CPA hat China zwar in Khartum einige Beliebtheit eingebracht, aus Sicht des Südsudan nahm es damit allerdings eine unseriöse und zwielichtige Rolle ein", so Lokuji. "China wird nun aus ein und demselben Grund danach streben, mit dem Südsudan wirtschaftliche Beziehungen aufzunehmen, aus dem es bisher ein Bettgeselle Khartums war – Öl."
Der Sudan arbeitete seinerseits an seiner politischen Reputation, indem er in Gestalt Generals Mohammed al-Dabis die Beobachtermission der Arabischen Liga in Syrien anführte. Auch wenn, oder gerade weil an der Besetzung dieses Postens mit dem ehemaligen Geheimdienstchef Kritik angebracht war, die dieser dann auch mit seinen verharmlosenden Bemerkungen zur Lage in Syrien bestätigte, ist dieser Zug ein gutes Beispiel für die Fähigkeit des Sudans, Aufmerksamkeitslücken in der internationalen Öffentlichkeit gekonnt auszunutzen. Das durchaus als diplomatisch zu bezeichnende Verhältnis westlicher Länder zu den Menschenrechten ist repressiv regierten Staaten wie dem Sudan nur zu bewusst.
Die Zukunft beider sudanesischen Staaten hängt nun vor allem davon ab, ob sie untereinander zu Kompromissen und Zusammenarbeit bereit sind. Auf der einen Seite steht eine Regierung, die bis jetzt an den fundamentalsten Aufgaben der Staatsbildung gescheitert ist und die zurzeit mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Ein-Parteien-Diktatur zusteuert. Und auf der anderen Seite steht ein Land, dessen Wirtschaft stagniert, in dem islamistische Kräfte an Einfluss gewinnen und dessen Regierung verzweifelt darum bemüht ist, Proteste niederzuschlagen. Angesichts dieser Konstellation ist die politische Zukunft jedoch weiterhin sehr ungewiss.
Annett Hellwig
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de